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Demonstration in Gedenken an den toten Sami Elvan. Der 15-jährige starb am Dienstag nach neun Monaten im Koma, sein Tod löste schwere Proteste aus.

© AFP

Zehlendorferin bloggt aus der Türkei: "Wie viele müssen noch sterben?"

Unsere Autorin ist für ein halbes Jahr zu Gast in der Türkei und hat schon über die Situation im Land geschrieben. Nach dem Tod des 15-jährigen Berkin Elvan gab es erneut landesweite Proteste. Hier schreibt die Zehlendorfer Schülerin, was sie mitbekommt.

#berkinelvanölümüsüzdür – Dieses Hashtag sieht man zurzeit überall, ob auf Facebook, Twitter oder Instagram. Übersetzt heißt das „Berkin Elvan ist unsterblich“. Berkin Elvan war ein 15-jähriger Junge, der am Dienstag in Istanbul gestorben ist nachdem er monatelang im Koma lag. Ein Polizist hatte aus zwei Metern Entfernung ein Tränengas-Geschoss auf ihn abgefeuert. Der Junge war nicht an den Protesten beteiligt, er wollte nur Brot für das Frühstück kaufen.

Erdogan ließ seine Sprecher der Familie sein Mitgefühl ausdrücken, er selber hatte wohl zu viel zu tun, da bald Kommunalwahlen sind. Die CHP, eine demokratischere und sich mehr an Atatürk orientierende Partei, warf ihm das vor. „Als in Ägypten bei Demonstrationen ein Kind starb, hast du geweint und jetzt kümmerst du dich einen Dreck um unsere Kinder“, so lautete der Vorwurf, den einer der CHP-Politiker in einer Rede äußerte. Das besagte ägyptische Mädchen starb im Arabischen Frühling.

Ich habe von den aufkommenden Protesten durch meine Austauschschülerfreunde erfahren, die in unserem Chat plötzlich schrieben, dass AFS, unsere Organisation, angerufen hätte. Wir sollen auf keinen Fall ins Zentrum gehen und nach der Schule direkt nach Hause. Leider ist es uns nicht erlaubt, an den Demonstrationen teilzunehmen. Falls die Polizei uns festnehmen würde, müssten wir wahrscheinlich nach Hause, da wir nur ein Visum haben. Uns Austauschschüler nimmt das mit, da wir nichts machen dürfen und können, aber in der Nähe wohnen und es mitbekommen. Ich weiß nicht, ob ich wirklich zu den Demonstrationen gehen würde, da sie doch sehr gefährlich sind. Das liegt aber nur daran, dass die Polizei so hart durchgreift.

Überall in der Türkei wurde nach dem Tod des Jungen protestiert, die Polizei setzte, wie hier in Istanbul, Wasserwerfer und Tränengas ein.
Überall in der Türkei wurde nach dem Tod des Jungen protestiert, die Polizei setzte, wie hier in Istanbul, Wasserwerfer und Tränengas ein.

© dpa

Wie meine Gastmutter schon sagte: „Es gibt keinen Grund, dass die Polizei gewalttätig wird, die Demonstrationen sind friedlich.“

In manchen Schulen haben die Schüler gestern Sitzstreiks gemacht, und alle hatten schwarze Klamotten an. An meiner Schule wurde das leider nicht gemacht, und wir mussten natürlich auch unsere Schuluniform tragen. Meine Gastschwester meinte, dass sie einmal versucht hätten, mit schwarzen Klamotten zu kommen, allerdings habe es dann Stress mit den Lehrern gegeben. Also hatten wir nur ein paar schwarze Elemente an, schwarze Kniestrümpfe oder schwarze Haarschleifen zum Beispiel. Lehrer sind teilweise in schwarzen Anzügen gekommen.

Als ich ein Foto von einem Bekannten auf Instagram gesehen habe, wie er mit einem Schal über Mund und Nase gewickelt in der Menschenmenge steht, habe ich ihm gleich geschrieben. Wie es war und ob es ihm gut geht. Er meinte, dass alles okay ist, aber dass er zwischendurch dachte, er sterbe. Auch er hatte eine Ladung Gas abgekriegt. Auch in dem Wasser der Wasserwerfer sind Giftstoffe enthalten. Freunde aus meiner Klasse sind am Dienstag ebenfalls hingegangen, sie haben mit Hunderten anderen Demonstranten Berkins Namen aus Menschen geformt auf einem wichtigen Platz in Izmir.

Als allerdings die Polizei wieder anrückte, sind sie nach Hause gegangen. Überall in der ganzen Türkei wird heftig protestiert, genau wie im Sommer. In Istanbul ist es am schlimmsten. Auf dem Taksimplatz werden die Leute mit Wasser weggefegt. Solche Bilder sieht man in den Nachrichten. Aber wenigstens sieht man sie in den Nachrichten, im Sommer durfte ja nichts übertragen werden. Das gleiche galt übrigens für die Proteste in der Ukraine, Erdogan hatte wohl Angst, dass das seine Landsleute anstacheln könnte.

Meltem Ohle, 16, ist Schülerin am musikbetonten Droste-Hülshoff-Gymnasium in Zehlendorf.
Meltem Ohle, 16, ist Schülerin am musikbetonten Droste-Hülshoff-Gymnasium in Zehlendorf.

© privat

Angestachelt sind sie ja jetzt wieder, aber dass deswegen jemand sterben musste, macht alle unglaublich wütend. Gestern sind in Istanbul zwei weitere Menschen gestorben, ein Demonstrant und ein Polizist. Wie viele müssen noch sterben, bis das alles endlich aufhört? Inshallah („so Gott will“, benutzt man hier ständig), ich hoffe keiner! Und bis dahin: #berkinelvanölümsüzdür und #direntürkiye („widerstehe, Türkei“).

Die Autorin ist 16 und Schülerin am Droste-Hülshoff-Gymnasium in Zehlendorf. Zurzeit geht sie für zehn Monate in Izmir zur Schule. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.                       

Meltem Ohle

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