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Analphabeten

© Thilo Rückeis

Bildung: Neuköllner Verein schult Analphabeten

164.000 Berliner können nicht lesen und schreiben. In einem Neuköllner Verein können sie es lernen - schämen muss sich hier keiner.

Vor der großen grünen Wandtafel des Klassenraums stehen fünf Personen in einer Reihe. Alle bis auf einen halten große farbige Blätter mit aufgemalten Buchstaben vor sich. Sie ergeben das Wort „ROME“. Ein Schüler steht am Lehrertisch, auf dem noch zehn weitere Buchstabenblätter liegen. Er überlegt. „Romane“ lautet das Wort, das er durch Austeilen der Plakate an die Mitschüler formulieren soll. Er drückt dem letzten, der noch kein Schild hat, ein „A“ in die Hand. „ROAME“ steht da jetzt. Als die Lehrerin das Wort einige Male langsam und deutlich silbenweise vorspricht, schiebt er einen weiteren Mitschüler in die Reihe: „ROMNAE“. Er überlegt wieder und schiebt schließlich die Personen in die richtige Reihenfolge. „Ro-ma-ne“ liest er laut, eine Silbe an die andere reihend. Die Klasse applaudiert, der nächste ist dran.

Spielerisch lesen und schreiben lernen ist keine ungewöhnliche Idee. Aber ein Blick in die Gesichter und auch die regelmäßigen Raucherpausen verraten, dass die Klasse nicht aus Sechjährigen besteht. Hier, im Neuköllner Verein Lesen und Schreiben, werden zehn Erwachsene unterrichtet. Der 52-jährige Paul ist einer von ihnen. Vor ihm liegen zwei Bücher: „Mit dem ersten bin ich schon fertig“, sagt er stolz.

Paul ist funktionaler Analphabet. Einer von etwa vier Millionen in Deutschland, wie der Bundesverband Alphabetisierung schätzt. Als funktionale Analphabeten gelten diejenigen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können, um ihren Alltag ohne Probleme bewältigen zu können. In Berlin sind das etwa 164 000 Menschen. Sie können zwar einzelne Wörter lesen, aber verstehen zusammenhängende Sätze nicht.

Wie es gekommen ist, dass Paul nicht lesen und schreiben kann, erzählt er beinahe bedächtig. Es sei viel schief gegangen, sagte er. Mit acht Jahren bricht er sich bei einem Unfall beide Arme. Nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt kann er seine Hände über Monate nicht richtig bewegen. Was er in der Schule versäumt, kann er nicht aufholen. Er wechselt auf die Sonderschule, wird wieder und wieder zurück gestellt. Auch hier findet er nicht in den Unterricht zurück, irgendwann vergeht ihm die Lust und er geht nicht mehr hin. Mit 14 verlässt er die Schule. Er fängt an, im Schlachthof zu arbeiten. „Das ist schwere Arbeit“, sagt er. „Und arbeiten konnte ich ja. Ob ich lesen konnte, hat keiner gefragt. Erfahren haben sie es dann, weil ich meine Lohnzettel nicht lesen konnte. Da wollten sie es mir noch ein bisschen beibringen.“

Solch eine Reaktion wünscht sich Paul. Dass die Menschen ihm helfen, wenn er sagt, dass er nicht lesen kann und ihn nicht gleich abhaken, glauben, er sei dumm oder faul. „Sich durch den Alltag zu schleichen ist sehr schwer“, sagt er. „Vieles klappt erst, wenn man es wieder und wieder macht. Dann weiß man, wo im Supermarkt alles steht und in welchen Bus man einsteigen muss. Die Stationen werden ja angesagt oder ich zähle einfach mit. Viel lerne ich auswendig. Ich frage nach und orientiere mich an Farben, Symbolen und bekannten Sachen, am Fernsehturm oder an der Gedächtniskirche.“

Nicht nur die Orientierung ist für Analphabeten schwierig, auch der erste Schritt, lesen und schreiben zu lernen. Nur muss man hier keine Tricks anwenden, sondern muss Mut aufbringen und seine Angst überwinden. Warum er nicht schon früher lesen gelernt hat? „Man kommt ja klar. Schwer, aber es geht. Man lässt sich eben was einfallen. Die Wahrheit zu sagen, fällt jedem schwer, der hier her kommt.“ Den Schritt zu tun, braucht oft einen Impuls. Das können die eigenen Kinder sein, die in die Schule kommen oder die Trennung vom Partner, der bisher geholfen hat. Paul sagt: „Meine Lebenspartnerin ist zehn Jahre älter als ich. Und was mach’ ich, wenn ihr was passiert? Was, wenn sie nicht mehr da ist?" Dass es im persönlichen Umfeld eines Analphabeten jemanden gibt, der ihnen alle Lese- und Schreibarbeiten abnimmt, ist nicht selten. Lebenspartner oder Familienmitglieder tun das, weil sie helfen wollen. In manchen Fällen aber bemerken selbst Angehörige oder enge Freunde das Lesedefizit lange nicht. Für sie ist die Lesefähigkeit so selbstverständlich, dass sie diese Möglichkeit gar nicht in Betracht ziehen. So gut wie alle, die im Verein Lesen und Schreiben lernen, haben keinen Schulabschluss.

„Was Kinder in den ersten Schulmonaten oder -jahren versäumen, können sie oft nicht wieder aufholen“, sagt Rosmarie Lüttich. Sie ist pensionierte Lehrerin und arbeitet ehrenamtlich zweimal wöchentlich im Verein. Oftmals interessieren sich die Eltern nicht dafür, was in ihren Kindern vor sich geht und so werden Lese-/Rechtschreibschwächen teilweise nicht erkannt oder Lern- und Aufmerksamkeitsmängel des Schülers als Unwillen ausgedeutet. Das ohnehin geringe Selbstwertgefühl der Kinder wird so weiter gedrückt, das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten wird ihnen genommen. Vor allem dann, wenn sie in der Schule nicht ernst genommen werden, sich ungerecht behandelt, als dumm abgestempelt fühlen. Dumm sind sie aber keinesfalls.

Im Gegenteil, wenn es um Tricks geht, sind sie sehr einfallsreich. Wenn man im Restaurant die Karte nicht lesen kann, bestellt man einfach das gleiche wie der andere. Wer lesen soll, hat seine „Brille vergessen“, wer nicht schreiben kann, trägt eine verletzte, eingebundene Schreibhand zur Schau. So liegt beispielsweise auch hier im Unterricht eine Zeitung auf dem Tisch. Es ist der Fortgeschrittenenkurs, doch dass sie gelesen wird, ist nicht wahrscheinlich, sagt auch Lehrerin Urda Thiessen. „Da sind auch Bilder drin, und mit einer Zeitung gehört man ja auch irgendwie dazu.“ Zur Allgemeinheit zu gehören wünschen sich auch Analphabeten. Wer aber in ständiger Angst lebt aufzufallen, verwendet viel Energie darauf, so normal wie möglich zu erscheinen. Thiessen erzählt von einem Teilnehmer, der bei jeder U-Bahn Fahrt ein dickes Buch vor sich liegen hatte, auf das er starrte und in dem er gelegentlich eine Seite umblätterte. Darin lesen konnte er nicht.

Paul möchte vor allem eines: Lesen können. Es mache ihm Spaß zu lernen, sagt er. Und er bemerkt seine Fortschritte. Vorwärts kommen will er, und das durchaus mit kleinen Schritten. Bevor die Teilnehmer den Kurs beginnen, werden sie gebeten, hundert Wörter aufzuschreiben, die ihnen vorgesagt werden, Verben und einfache Substantive. „Als ich her kam, konnte ich 47 ohne Fehler“, sagt Paul. „Ich mache den Kurs jetzt seit drei Monaten, und neulich habe ich die hundert Wörter wieder geschrieben. Da hatte ich 57 richtig, zehn mehr!“ Paul lächelt stolz. Wie sein Ziel aussieht? „Na, hundert!“

Lesen und Schreiben e. V., Herrnhuther Weg 16, 12043 Berlin, Tel. 687 40 81 oder 686 93 92. Im Internet: www.lesen-schreiben.com

Raphaela Solich

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