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Eine Jahreskarte für die Wiener Straßenbahn (und den restlichen öffentlichen Nahverkehr) kostet 365 Euro.

© Toni Anzenberger/dpa

Billiger Nahverkehr für Berlin?: So funktioniert das 365-Euro-Ticket in Wien

Mehr Wien wagen: Ein Euro pro Tag für den ÖPNV – Berlins Regierender hat Sympathien für das österreichische Modell. Wie schaffen die das? Ein Vergleich.

365 Euro, einen Euro am Tag bezahlen die Wiener für ihr Nahverkehrs-Ticket. Ergebnis: In Wien hat fast die Hälfte der Bevölkerung eine Jahreskarte für Busse und Bahnen, nämlich 822.000 der 1,8 Millionen Einwohner. Diese Zahl ist höher als die der zugelassenen Pkw. Berlin hat fast doppelt so viele Einwohner und im Verhältnis deutlich weniger von ihnen haben eine Jahreskarte: 524.546. Hier kostet das Jahresticket mindestens 761 Euro.

Die Wiener legen 38 Prozent ihrer täglichen Wege mit Bahn, Tram (von den Wienern liebevoll „Bim“ genannt) oder Bus zurück. In Berlin liegt der Wert bei 27 Prozent – im deutschen Vergleich steht die Hauptstadt damit sogar noch gut da: In München sind es 23 und in Hamburg sogar nur 18 Prozent. Würden günstigere Tickets diese Zahl erhöhen?

BVG-Chefin Sigrid Nikutta sagte kürzlich, billige Ticketpreise seien nicht vereinbar mit dem von der BVG vorangetriebenen Netzausbau. Die Zahlen geben ihr recht: In Wien liegt die Kostendeckung durch Tickets bei 60, in Berlin bei 70 Prozent. Der deutsche Durchschnitt liegt sogar bei 78 Prozent, sagt Lars Wagner vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). „Deutschland ist hier europaweit an der Spitze.“ Die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen sei in Deutschland das oberste Kriterium, sagt Wagner.

Das bedeutet weniger Belastung für den Steuerzahler, aber auch, kaum Geld in Netzausbau, Taktverdichtung oder den Fuhrpark investieren zu können – und eine regelmäßige Erhöhung der Preise. In wachsenden Städten wird es dadurch enger in den Bahnen, ein Umstieg vom Auto ist weniger attraktiv.

Finanzierung durch „U-Bahn-Steuer" und Parkraumbewirtschaftung

Wien hingegen achtet weniger auf die Kostendeckung. Die Stadt investiert viel Geld in den öffentlichen Nahverkehr und finanziert das vor allem durch zwei Maßnahmen: Parkraumbewirtschaftung und eine „U-Bahn-Steuer“, wie Wagner es nennt: Alle Einnahmen aus den Parkgebühren fließen an die Wiener Linien. Seit die Stadt 2012 das 365-Euro-Ticket eingeführt hat, hat sie die Parkraumbewirtschaftung massiv ausgeweitet und die Gebühren um 60 Prozent angehoben.

Außerdem müssen alle Arbeitgeber eine Abgabe zahlen, die zweckgebunden in den Ausbau der U-Bahn fließt. Seit 2012 sind das zwei Euro pro Arbeitnehmer und Woche. Zuvor waren es 72 Cent. „Das würden viele deutsche Städte sicher gerne machen, es geht aber hier nicht“, sagt Wagner. Kommunen dürfen nach deutschem Recht keine neuen Steuern schaffen.

Hier sieht auch Wulf-Holger Arndt eine große Hürde. Er leitet an der TU Berlin den Forschungsbereich „Mobilität und Raum“. Die Kommunen wüssten nicht so recht, wie sie gut ausgebaute Netze bei günstigen Ticketpreisen finanzieren sollen. Weil Steuern wegfallen, bleibt nur das Instrument einer kommunalen Abgabe. Hier muss die Stadt aber detailliert begründen, warum alle Menschen für etwas zahlen sollen, was sie vielleicht selbst nicht nutzen. Bewohner ländlicher Gebiete mit schlechter Anbindung könnten klagen. „Hier fehlt den Kommunen auch der Mut, das einfach mal auszuprobieren“, sagt Arndt.

Deutschland, das Land der Autofahrer

Warum die Parkraumbewirtschaftung nicht längst stärker ausgeweitet ist, können sich beide Experten nur mit politischem Kalkül erklären. „Wir sind eben ein Land der Autofahrer“, sagt Wagner. „Wenn ich für vier bis sechs Euro den ganzen Tag am Potsdamer Platz parken kann, steige ich nicht auf den öffentlichen Verkehr um.“ Billige Jahreskarte hin oder her. Überhaupt: Die Preisdebatte greife zu kurz, sagen Wagner und Arndt. „Wenn es darum geht, Kosten zu sparen, sollten nur mehr öffentliche Verkehrsmittel genutzt werden“, sagt Arndt.

Denn die gesamtgesellschaftlichen Kosten etwa durch Unfälle, Luftverschmutzung oder Lärm seien beim Autoverkehr wesentlich höher. All das wirke sich natürlich negativ auf die bisher priorisierte Kostendeckung aus. „Niedrige Kartenpreise bringen Autofahrer nicht dazu, ihr Auto stehen zu lassen“, glaubt auch Wagner. „Sonst würden sie das heute schon tun, wenn man Versicherungskosten und Sprit mit bedenkt.“ Wichtiger seien teure und wenige Parkplätze und vor allem: ein weites Netz, enge Taktung und ausreichend Wagen.

„Wenn ich die Preise senke, fährt der Bus in Spandau trotzdem nur alle halbe Stunde“, sagt Wagner. Und bevor ein günstiges Ticket angeboten werden könne, müssen die Kapazitäten des Netzes ausgeweitet werden. Haben Neukunden nämlich gleich schlechte Erlebnisse durch überfüllte Bahnen oder lange Wartezeiten, verliere man sie schnell wieder.

Wien investiert mehr Geld

Arndt verweist vor allem auf die gesellschaftspolitische Bedeutung des Nahverkehrs. Günstige Ticketpreise und gute Anbindungen hätten eine integrative Wirkung auf sozial schwächer gestellte Menschen – Einkommen und Wohnort schränken dann Mobilität weniger ein.

In Wien stand die Preissenkung am Ende einer langen Entwicklung. Die Wiener Linien haben zuerst das Netz ausgebaut und die Takte verkürzt, erklärt Wagner. Sie investieren mehr als die BVG. Jedes Jahr steckt das Unternehmen laut BVG-Sprecherin Petra Nelken 250 bis 300 Millionen Euro in den Ausbau der Infrastruktur. Bei den Wiener Linien sind es etwa 400 Millionen Euro – 2019 werden es 435 Millionen Euro sein.

„Kostendeckung wird durch 365-Euro-Ticket atomisiert“

Natürlich sei Wirtschaftlichkeit nicht schlecht, sagt Wagner. Die Frage sei aber, ob der Fahrgast oder der Steuerzahler für die Kosten des öffentlichen Nahverkehrs aufkomme. Und wenn man städtischen Verkehr umweltfreundlich und günstig gestalten wolle, entstünden eben Finanzierungslücken, sagt Wagner. „Mit einem 365-Euro-Ticket wird die Kostendeckung atomisiert.“

Welcher Weg hier gegangen wird, ist also eine politische Entscheidung. Gerade beginnt in deutschen Städten ein Umdenken. Im Februar 2018 schlug sogar die Bundesregierung vor, einen kostenlosen Nahverkehr zur Verbesserung der Luftqualität einzuführen – auch wenn man sich davon schnell wieder distanzierte. Templin schaffte Fahrscheine für eine Weile ab, Berlin diskutierte zumindest darüber. Aber auch in der Hauptstadt wurde vorrangig damit argumentiert, dass ein niedriger Preis keine Massen in die U-Bahn lockt.

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