zum Hauptinhalt

Berlin: Bingo in Dur und Moll

Zwischen der Kiez-Version des Zahlen-Gewinnspiels im Kreuzberger SO 36 und der offiziellen Variante am Potsdamer Platz liegen Welten

„Wir spielen jetzt die kleine Rosette“, gurrt Kitty Carell ins Mikrofon. Kitty pflegt unter ihrer schwarzen Perücke diese verdammt tiefe Stimme mit holländischem Akzent. Die kleine Rosette taucht jetzt auf dem Overheadprojekter auf. Aha, so also. Ein paar hundert Leute im SO 36 senken die Köpfe und konzentrieren sich mit gezücktem Stift auf den kleinen Ring auf ihrem Bingo-Spielschein. Dafür also haben wir uns eingereiht in den kompakten Wartewurm, der sich schon ab halb sieben auf der Oranienburger Straße staut. Jeden zweiten Dienstag im Monat dasselbe. Denn dann ist Kiezbingo. Um das Kiezbingo hat sich ein seltsamer Kult entwickelt. Manche gehen hier immer wieder hin. Manche bringen sich Käsebrötchen mit. Niemals kommen alle rein.

Aber schon dreht sich die Betonmischtrommel auf der Bühne und die Nummerngirls in Nylons, Kitty Carell und Mary de Mol, ziehen die Zahlen. „17, 24, 37“. Am besten ist, man gewinnt gar nicht erst, hatte es geheißen. Denn die Gewinner würden unter Scheinwerfern ordentlich gepiesackt. „44, 28, 52“. Aber immerhin, alles für einen guten Zweck hier. Die Erlöse gehen an eine Kreuzberger Initiative. „32, 22, 9“ – „Bingo“ schreit einer. Er hat die Rosette voll und rennt auf die Bühne. Mary stelzt zu dem Gewinnehaufen. Die Geschenke passen nicht zum Beschenkten. Darin liegt der Witz. „Ein Wochenende schwules Tauchen!“ Der Gewinner verzieht das Gesicht. „Was ist, Roman? Warum willst Du denn nicht tauchen?“ Roman tauscht sein Wochenende gegen eine Flasche Rotwein ein. Unterhaltung ist so einfach. Man muss den Leuten nur öffentlich eine Blockflöte schenken, und schon kann man sich an ihrer Qual ergötzen. Die Betonmischmaschine dreht sich wieder. Träge und ein bisschen bösartig, wie unterforderte Drachen, schlenzen die beiden über die Bühne. „Du hast ein Scheiß-Leben“, raunzt Kitty ihre Mitmoderatorin an, „aber trotzdem gute Laune. Wie machst du das?“ Dann fassen sie den Gewinner unter die Arme, renken die Beine herum und die „Live Flamingo Bingo Band“ spielt „ein supersexy Bingo“ in Dur.

Einer der Preise ist ein Gutschein für Live-Bingo im Casino am Potsdamer Platz. Dort nehmen sie für sich in Anspruch, so etwas wie das Original nach Berlin gebracht zu haben. Die herkömmliche Bingo-Variante der Angelsachsen, von der man immer glaubte, man müsse eine saure Dauerwelle tragen, um mitmachen zu dürfen. Also hinein durch das Erdgeschoss im Casino, dort, wo die Ärmsten in Lederjacken um die Roulettetische kreisen, ein bisschen halbseiden wohl auch. „Ich sorge dafür, dass Sie hier rausfliegen“, verkündet der Croupier gerade höflich einer Frau. Oben im Bingosaal dagegen ist die Disziplin vollkommen. In geräumigen orangen Sesseln sitzen die Spieler in Sitzgruppen in heiligem Ernst über die Zahlenzettel gebeugt. Die Menschen schweigen und die Decke ist niedrig, wie in einer Abflughalle. Eine Stimme liest langsam und deutlich die Bingozahlen, während die Blicke immer wieder die Monitore streifen, als würde jetzt endlich die verspätete Maschine dort erscheinen, oder zum Boarding aufgerufen. Aber es sind auch dort die Zahlen, eine nach der anderen. „Bingo“ schreit einer und kriegt den Gewinn auf einem Silbertablett in bar am Tisch serviert.

In einem klinisch sauberen Glaskasten wirbeln erneut die Bingozahlen. Die Angestellte nimmt betont deutlich das Zahlenlesen wieder auf. Folgsam tragen die Leute ihr Kreuz auf den Zetteln ein. Dies soll ein Glücksspiel sein. Warum fühlt es sich an, wie auf der Post einen Paketschein auszufüllen? Das Bingospielen an sich ist nunmal wenig aufregend. In Kreuzberg gibt es dafür ein Rahmenprogramm, hier kann man sich Burger bestellen. Wie das Paar am Nebentisch. Die beiden reden nicht und gucken auf den Monitor. In Kreuzberg lernte man seine Mitspieler kennen. Dass fremde Leute miteinander reden, scheint hier nicht vorgesehen. „Bingo“! Ein Mann mit Schnauzer und Jägerpulli gewinnt. Bis zum nächsten Gewinn bleibt die Sterntrophäe mit dem Silbertablett auf seinem riesigen Tisch stehen, an dem er ganz alleine sitzt. Er lächelt und bestellt noch ein Warsteiner.

Kiezbingo jeden zweiten Dienstag im Monat – also morgen – ab 19 Uhr im SO36, Oranienstraße 190. Bingo in der Spielbank am Potsdamer Platz täglich von 14.30 bis 23.30 Uhr

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false