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Berlin: Birgit Peters (Geb. 1942)

"Die anderen verhalten sich, als wäre das Leben unendlich"

Hier, unter diesen Bäumen lernten wir uns kennen. Es hat mich sofort erwischt“, schrieb Heinz. Unter diesen Bäumen: Das war der Friedhof, auf dem eine ehemalige Kollegin beerdigt wurde. Birgit, die Schwester der Verstorbenen, war zu diesem Zeitpunkt 66 Jahre alt und ALS-krank. Ihren Kopf konnte sie nur mit Mühe aufrecht halten, das Sprechen fiel ihr schwer.

Heinz sah nicht die Kranke. Er sah eine groß gewachsene, feingliedrige Frau, mit schrägen, graugrünen Augen und dichtem Haar. Er sah einen klugen, sensiblen Charakter. „Keine Träne sollst du jemals durch mich vergießen“, gelobte er kurze Zeit später.

Birgit schrieb: „Erst wenige Wochen ist es her, da schien mir dein Name zu hart, zu fremd zu klingen. Nun steht er für Zärtlichkeit, für Achtsamkeit, und ich liebe ihn.“

Und wieder Heinz: „Es lebt die Erinnerung der letzten Tage, Wochen, Monate bis hin zu unserem ersten Zusammentreffen und lässt mich in freudigem Schauer. Da juckt das Kinn, da verformt sich der Heinz, da tanzen die Sinne einen wilden Cancan.“

Die beiden verständigten sich oft in Briefen und Notizen. Sie wussten, dass ihre gemeinsame Zeit begrenzt war, zwei Jahre vielleicht. Dass mit ihrer Liebe auch Birgits Leben enden würde. Die Schwächung der Muskeln hatte am Kopf begonnen, dabei das Sprachzentrum erwischt, und wanderte unaufhaltsam den Körper hinunter.

Jeder Augenblick zählte. Die Schilderungen der Vergangenheit hielten sie knapp. Heinz erfuhr, dass Birgit Kunst studiert und bis kurz vor ihrer Pensionierung als Grundschullehrerin gearbeitet hatte. Er erfuhr von ihrer langen, am Ende leidvollen Ehe, die kinderlos geblieben war. Er ließ sich ihre Bilder zeigen und bewunderte ihr Geschick im Umgang mit Formen und Farben. Im Internet sind noch einige zu sehen: www.kunstzeit.eu.

Sie wären gerne nach Sardinien gefahren, wo Birgit ein Haus besessen hatte, aber dafür war sie schon zu schwach. Auch kleine Ausflüge strengten sie immer mehr an, ebenso größere Gesellschaften. Als sie nicht mehr sprechen konnte, schrieb sie ihre Sätze in einen Computer, der sie vorlas, nicht selten so komisch, dass sie darüber lachen musste. Überhaupt erlebten die Freunde sie als heiter, als eine, die die anderen aufrichtete, wenn sie sich Sorgen machten.

Doch einer Ärztin vertraute sie an: „Die anderen leben immer mit einem Bein in der Zukunft, machen Pläne und verhalten sich, als wäre das Leben unendlich. Ich selber spüre sehr stark die Endlichkeit.“

Heinz freute sich am Leuchten ihrer Augen, wenn er sie besuchte. Er half ihr beim Aufräumen und Waschen. Er stattete die Staffelei mit Arbeitslämpchen aus. Er schob ihr Kissen unter den Kopf, wenn sie Atemnot bekam. „In der Umarmung, liegend vergesse ich meine Einschränkung und bin voller Kraft.“ Sie, die selbst nicht mehr schlucken konnte, kochte für ihn, so lange sie das noch konnte. Dann saß sie ihm gegenüber und verfolgte jeden seiner Bissen. „Dir beim Essen nahe zu sein, nährt auch mich und lässt mich die Genüsse mitempfinden.“

Birgit verlangte nicht, dass auch Heinz das Leben eines Kranken leben solle. „Du entfaltest dich, wenn du deiner Spontaneität Raum geben kannst. Eine schreckliche Vorstellung, dich darin zu blockieren.“

Sie selbst hatte ja auch ein Leben, das vor Heinz begonnen hatte. Viele Freunde besuchten sie, Freunde, die verstanden, was Heinz meinte, wenn er diese Frau, die gar nicht herrisch war, als Königin bezeichnete.

Als sie nicht mehr alleine leben konnte, zog Heinz bei ihr ein, organisierte den Alltag, wusch und kleidete sie. Am Ende wurden die Krämpfe, die aus der Atemnot entstanden, unerträglich. Ihr linker Arm ließ sich nicht mehr allein bewegen. „Meine Gedanken und Gefühle auch schriftlich nicht mehr mitteilen zu können, begleitet von Atemnot und Angst, erscheint mir eine Prüfung, der ich mich nicht unterziehen möchte.“ Sie begann nach dem Ort zu suchen, an dem sie sterben wollte. Sie fand ihn in einem Hospiz in Neukölln. Weil alle Betten belegt waren, sagte man ihr, dass man sie anrufen werde, sobald Platz sei. Zwei Wochen waren Heinz und Birgit noch einmal zu Hause. Dann kam der Anruf: Sie können morgen kommen.

Sie hatte viel nachgedacht über den Tod. „Ich werde meine Mutter wiedertreffen.“ Ruhig und entschlossen bezog sie ihr Zimmer in dem Hospiz und stellte unter ärztlicher Aufsicht die künstliche Ernährung ein. Zwei weitere Wochen hatten sie Zeit, Abschied zu nehmen; Heinz lebte bei ihr, in diesem Zimmer. Sie spielten auf der Dachterrasse des Sterbehauses Canasta. Sie hielten sich in den Armen.

Dann stand Heinz wieder auf demselben Friedhof, auf dem er Birgit kennengelernt hatte: „Hier hat alles begonnen. Hierher begleite ich dich zurück.“

Anne-Jelena Schulte

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