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Berlin: Birgit Plocher (Geb. 1966)

"Ich habe meine eigene Gesundheit"

Als Kind war sie ein knopfäugiger Wildfang, der mit den Jungs um die Wette rannte, in die höchsten Baumwipfel kletterte und wie eine Wildente im Tegeler See schwamm. Dann, mit zwölf Jahren der jähe Bruch: ein Arztbesuch, ein Bluttest, eine Diagnose, die das Leben erdet: Panzytopenie – eine seltene Blutkrankheit, bei der die Bildung der Blutkörperchen versagt.

Die Ärzte geben ihr nur wenig Lebenszeit, dafür reichlich Hormone. Sie erlegen ihr einen Verhaltenskodex auf, der einem Leben in der Vitrine gleicht. Kein Sport, kein Spaß, kein Risiko! Ein Sturz vom Fahrrad, ein zu heftiger Stoß – schon kann es zur inneren Blutung in Kopf oder Körper kommen. Ein Jahr lang bleibt sie wie in Watte gepackt zu Hause, umsorgt von der allein erziehenden Mutter, die selbst nicht weiß, wie ihr geschieht. „Ich will das nicht!“, ruft Birgit verzweifelt. Zusammen werden beide stark und lernen, mit dem Handicap umzugehen.

Birgit ist ja nicht abgeschnitten vom Leben. „Ich habe meine eigene Gesundheit“, sagt sie später als Erwachsene, um jedem klarzumachen, dass ihr Mitleid und Selbstmitleid nicht stehen.

Nach der Ausbildung zur Arzthelferin studiert sie Sozialarbeit und nimmt eine Stelle beim Berliner Krisendienst an. Ihre Erfahrung mit der eigenen prekären Lebenssituation kommt ihr in dem Beruf zugute. Sie spürt es, wenn jemand in große Not geraten ist und schnelle Hilfe benötigt. Präzise lotet sie chaotische Gefühlslagen aus, nimmt auch unscheinbare seelische Befindlichkeiten ernst und kriegt keinen Schreck, wenn sie es mit harten Fällen zu tun bekommt. Um geistig Behinderte kümmert sie sich mit besonderer Aufmerksamkeit.

Auf mobilen Einsätzen achtet sie darauf, nicht in aggressive Situationen zu geraten. Spielt jemand mit ihr Spielchen, beendet sie ein Telefonat auch mal deutlich: „Die Schleife haben wir jetzt oft genug durchlaufen, das führt zu nichts!“

Ihre Kollegen und Freunde schätzen sie wegen ihrer Energie und warmherzigen Unverdrossenheit. Jedes Jahr zu Weihnachten schmückt sie die Praxisräume und übernimmt den Notdienst. Ihre eigene Verletzlichkeit sieht man ihr nicht an. Hinter dem zarten Gesicht mit den strahlenden Augen arbeiten Selbstdisziplin und permanente Wachsamkeit.

Wenn sie in Clärchens Ballhaus tanzt, dann eben etwas langsamer und bei aufgeräumter Tanzfläche. Beim Russen aber schleudert sie Wodkagläser an die Wand und kichert. Auf Hiddensee überrascht sie die Freunde: „Und jetzt mieten wir uns Fahrräder!“ In Berlin würde sie niemals Rad fahren.

Sie hat schwule, junge, alte, schräge, normale, bekümmerte und unbekümmerte Freunde. Bei Partys und anderen Unternehmungen ist oft ihre Mutter dabei – als Freundin, nicht als Aufpasserin. „Lass uns lachen gehen!“, sagt sie zu einer Kollegin, „der Job war mies genug heute!“ Ihr ausgelassenes Kichern ist heute noch allen im Ohr.

2005 dann der Schock: Gehirnblutung, wie aus dem Nichts. Alle denken sofort: Das war’s! Aber Birgit kämpft. An eine Operation ist nicht zu denken, die würde sie nicht überstehen. Nicht selten widerspricht sie Ärzten und wandelt Therapien eigenmächtig ab. Sie kann in ihren Körper hineinhorchen. Findet sie einmal keinen Schlaf, knüpft sie Stunden lang Glasperlenketten.

Mit Rückenschmerzen geht sie 2010 zur Untersuchung ins Krankenhaus. Niemand ahnt, dass ihre Lebenssonne alle Energiereserven aufgebraucht hat. Die vielen Transfusionen, die permanente Äquilibristik im Bewahren des Glücks – ihr Körper kann nicht mehr. Sie hofft auf ein neues Medikament, das kurz vor der Zulassung steht. Bald hat sie Geburtstag; den will sie unbedingt feiern. Die Freunde haben Mousse au Chocolat versprochen. „Die Biggi schafft das, die hat immer alles geschafft!“

Drei Tage lang bekommt Birgit das neue Medikament, doch es wirkt nicht. „Komm runter, lass dich noch mal drücken!“, sagt sie auf dem Krankenbett zu einem Freund. Zwei Tage später übernehmen die Opiate die Regie. Ein letztes Augenstrahlen, ein kaum spürbarer Händedruck. Ihre Mutter und die Freunde sind bei ihr, als sie stirbt. Sechzehn Stunden vor ihrem 44. Geburtstag. Stephan Reisner

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