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Berlin: Bis die Strafe folgt, ist die Tat fast vergessen

Jugendliche Täter werden erst nach Monaten zur Rechenschaft gezogen / Pro & Contra: Schneller und härter strafen?

Jugendrichter Fred Rudel öffnet die oberste Akte auf seinem Schreibtisch. Mehmet, 19 Jahre alt, hat am 9. Oktober in einem Laden in Neukölln eine Schachtel Zigaretten gestohlen. Er wurde gefasst und gab alles sofort zu. Bei der Staatsanwaltschaft ging der Fall am 10. Januar ein, volle drei Monate später. Die Staatsanwältin beeilte sich und erhob am 17. Februar Anklage. Am 28. Februar landet die Akte bei Jugendrichter Rudel. Die Anklageschrift besteht aus nur einem Satz: „Am Tattag gegen 15.30 Uhr entnahm der Angeschuldigte in den Geschäftsräumen der Firma Kaufland den dortigen Auslagen eine Schachtel Marlboro Big Box im Wert von 3,90 Euro, steckte diese in seine Hosentasche und verließ die Geschäftsräume, um den vorbezeichneten Gegenstand für sich zu behalten, Vergehen, strafbar nach(...)“.

Im Jugendstrafrecht steht der Erziehungsgedanke im Vordergrund, nicht der Strafgedanke wie bei den Erwachsenen. Beim Jugendlichen soll versucht werden, ihn wieder auf den Weg des Rechts zu leiten, und die Annahme gilt, dass er, wenn er erst einmal mit richtigen Kriminellen im Gefängnis sitzt, die Kurve dorthin nicht mehr kriegt. Deshalb sind die Strafen im Jugendrecht viel milder als im Erwachsenenstrafrecht; statt ihrer werden eher erzieherische Maßnahmen angewendet. Teil des Plans ist auch, dass der straffällig gewordene Jugendliche möglichst schnell eine Reaktion des Staates spüren soll. Für kleinere Delikte mit eindeutiger Beweislage gibt es deshalb das vereinfachte Jugendverfahren. Auch im allgemeinen Strafrecht, also dem für Erwachsene, gibt es Regeln für ein beschleunigtes Verfahren. Sie gelten auch für Heranwachsende.

In der Praxis werden diese Möglichkeiten aber nicht so häufig genutzt, wie das möglich wäre. Der eingangs zitierte Fall Mehmet beispielsweise hätte sich für das beschleunigte Verfahren geeignet und wäre dann binnen einer Woche erledigt gewesen. Statt aber diese Variante zu wählen, hat die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben. Dabei hätte sie im schnellen Verfahren nicht einmal an der Verhandlung teilnehmen müssen, also Arbeit gespart.

Für Jugendrichter Rudel ist dieser Verlauf typisch. Das Tempo-Problem beginnt für ihn aber schon eine Instanz früher, nämlich bei der Polizei. In Sachen Mehmet haben die Beamten drei Monate gebraucht, bis sie die Sache der Staatsanwaltschaft übergaben. Dabei ist es ihre Pflicht, die Ermittler „unverzüglich“ zu unterrichten. Viel zu ermitteln gab es ja auch gar nicht, denn Mehmet hatte alles zugegeben.

Die Zahl der Jugendstaatsanwälte sei pro Abteilung von acht auf sechs reduziert worden, um mehr Kapazitäten für die Ermittlungen zur Bankgesellschaft frei zu bekommen, so Rudel. Im Jahr 2001 waren nach Angaben der Justizverwaltung 52 Staatsanwälte und 67 Richter am Amts- und Landgericht für Jugendsachen zuständig. Es gingen im selben Jahr 18 598 Verfahren ein, von denen 2748 im Schnellgang erledigt wurden. Das entspricht einer Quote von 14,7 Prozent.

In Sachen Mehmet geht es jetzt wie folgt weiter: Die Anklage wird zugestellt. Dann hat Mehmet Zeit, sich zu äußern – ab Zugang sieben Tage. Hat er das getan, liegt die Akte frühestens zehn Tage später wieder beim Richter, denn alle Wege legt sie auf dem Handwägelchen des Wachtmeisters zurück. Ende März kann Richter Rudel also frühestens einen Termin zur Verhandlung ansetzen. Der nächste ist erst wieder zwei Monate später frei, dann ist es Ende Mai. „Und dann ist es noch ziemlich schnell gegangen“, sagt Rudel. Wenn dann alle da sind, der Staatsanwalt, der Verteidiger, der Angeklagte, wird Rudel das Verfahren wohl einstellen. Ein Dreivierteljahr nach der Tat.

Fatina Keilani

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