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Blick unter die Oberfläche: Berlins Gewässern auf den Grund gegangen

Berlins Unterwasserwelt liegt mitten in der Stadt und ist kaum bekannt. Sie ist das Reich der cleveren Bitterlinge, Riesenwelse und Wanderaale. Mit großem Aufwand will der Senat das Leben unter Wasser erleichtern.

Lautlos gleiten die Aale aus dem Kescher in die Havel. Hinein in die Unterwasserwelt, die mitten in der Stadt und doch ganz weit weg ist. 340 000 Exemplare werden allein in diesem Jahr in Berlin ausgesetzt; ein Großteil davon am vergangenen Mittwoch beim Fischereiamt am Stößensee. Statistisch kommt also auf zehn Berliner ein junger Aal. Doch sind Letztere einmal weggeflutscht, bekommt der Mensch sie allenfalls Jahre später an der Fischtheke wieder zu sehen. Grund genug für einen Blick unter die Oberfläche – ins Reich der allsommerlichen Monsterwelse und rätselhaften Blubberblasen. Was verbirgt sich hinter jenen 6,7 Prozent des Stadtgebietes, die die allermeisten immer nur oberflächlich sehen?

Wenn Christian Wolter erzählt, werden Gewässer dreidimensional. Der Ingenieur vom Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in Friedrichshagen am Großen Müggelsee hat schon Barsche am Kanzleramt gefangen und Plötzen in der Panke. Er weiß, dass er sich am alten Pfeiler der Brommybrücke in der Spree zwischen Friedrichshain und Kreuzberg auf Zander verlassen kann. Zumal Zander – anders als Hechte – ihre Beute eher der Nase nach jagen als mit Augenmaß, was ihnen in trübem Wasser einen Vorteil verschafft.

Auch weiß der Ökologe, dass die Schmerle kurz vor Berlin steht. Sie nähert sich von Osten her, über die Erpe. In deren Oberlauf wurde ihr dank der 2000 in Kraft getretenen Europäischen Wasserrahmenrichtlinie eine Wanderhilfe gebaut. Nun muss sie sich noch an den Abfluss des Klärwerks Münchehofe gewöhnen und den Weg in die Spree finden. Dabei bekommt sie politische Rückendeckung, denn die Behörden müssen nach Auskunft des Senats bei Sanierungsarbeiten neuerdings auf Naturnähe achten.

Die Verwaltung arbeitet an insgesamt neun Großprojekten im Sinne der Richtlinie, die einen „guten ökologischen Zustand“ der Gewässer bis 2015 fordert. In der Spree könnten am Plänterwald vom nächsten Jahr an zwei Flusskilometer renaturiert werden, wenn Fördergeld der EU rechtzeitig eintrifft. In der Panke werden nach Auskunft der Stadtentwicklungsverwaltung zwischen Buch und Niederschönhausen ab 2013 zwei Wehre und senkrechte Ufer durch Schrägen ersetzt. Insgesamt seien 17 Kilometer Renaturierung für das Flüsschen geplant, das bisher sein Leben durch ein Rohr in der Spreeufermauer am Schiffbauerdamm aushaucht. Auch das Tegeler Fließ soll 2015 zwei Fischtreppen erhalten. Im Landwehrkanal fährt schon jetzt allnächtlich die „Rudolf Kloos“ auf und ab, um die Fische mit Sauerstoff zu versorgen, bevor ihnen der hineingespülte Dreck der Stadt die Luft zum Atmen nimmt. Außerdem fischt ein Spezialschiff regelmäßig Müll aus den Gewässern: Am kommenden Montag ist der Tegeler Hafen dran. Und bei MTV an der Mediaspree soll im August endlich jener 500-Kubikmeter-Container in Betrieb gehen, der bei Regengüssen die Abwässer speichert, bis die Klärwerke wieder Kapazitäten haben.

Bis in Regierungsviertel schwimmen die Tiere.

Dort am Osthafen sei die Spree noch seicht, sagt Wolter, der Fischspezialist. Aber bis ins Regierungsviertel schaffen es nur die Härtesten: Da sei der Fluss eine gemauerte Rinne ohne Verstecke. Bei zweieinhalb Metern Tiefe könnte ein großer Mensch mit Schnorchel fast durchlaufen, zumal der Sandboden hier fest sei. Weil die Ausflugsdampfer mit ihren Schrauben das Wasser ständig rühren, kann sich kein Schlick ablagern. Aber Jungfische überleben diese Schleuder kaum: Zehn Zentimeter pro Sekunde schaffen sie im Sprint, sagt Wolter. Der Rückstoß einer Schiffsschraube sei sieben Mal so groß. „Keine Fischart reißt sich darum, in der Stadt zu leben“, resümiert er. Orte wie Spreebogen und Landwehrkanal sind nur für manche erwachsenen Fische auszuhalten. Aber schon kleine Nischen wie die, die durch vorgesetzte Spundwände am Ullsteinhaus im Teltowkanal sowie an der Charlottenburger Schleuse in der Spree angelegt wurden, schafften neue Lebensräume und Kinderstuben. Der Engpass in Berliner Gewässern sei inzwischen weniger die Wasserqualität als die Struktur der Ufer.

Insgesamt beherbergt Berlin 38 Fischarten und etwa halb so viele Tauchvereine. Deren Mitglieder ähneln den Fischen insofern, als viele die flachen Ufer naturnaher Seen bevorzugen. Siegfried Bäsler, Vorsitzender des Tauchsportclubs Berlin, schwärmt von Hechten, die unter Pflanzen lauern. Auch der Blick auf wogendes Schilf und im Wellengang scheinbar schaukelnde Bäume sei reizvoll. Die Zivilisation habe dagegen kaum Geheimnisse hinterlassen, wenn man von algenbehangenen Einkaufswagen oder Fahrradleichen absehe. Spannender seien Stauseen mit Resten versunkener Wälder und Gemäuer oder Schiffswracks wie das im Werbellinsee. Bäsler gehört zur Fraktion der fotografierenden Taucher, die gern auch mal mit der Kamera zwischen den Seerosen herumschnorcheln. Die Tieftaucher-Fraktion dagegen treffe sich eher am Tegeler Flughafensee. In dem erst vor rund 50 Jahren als Kiesgrube ausgebaggerten Loch geht es 30 Meter abwärts. „Aber spätestens ab zehn Meter Tiefe ist Nacht“, sagt Bäsler. Am nährstoffreicheren Großen Müggelsee beginnt die Nacht schon früher. Er ist ohnehin nur vier bis acht Meter tief. Darunter liegt eine fast ebenso dicke Schlickschicht, deren Konsistenz von Pudding in Lehm übergeht. Die Schicht bildet sich hauptsächlich aus Laub und Wasserpflanzenresten. Sand dagegen – über Jahrhunderte das Sediment der Spree – wird seit deren kompletter Regulierung über Schleusen im 19. Jahrhundert kaum noch angeschwemmt. Der Havel ist ihr Flusscharakter noch eher anzumerken: In ausgedehnten Untiefen stromabwärts von Inseln wie Schwanenwerder laufen regelmäßig Segler auf Grund.

Christian Wolter könnte den ganzen Tag auf seinem Institutsboot am Großen Müggelsee sitzen und die Welt der Fische erklären. Wobei ihn die – mit bis zu zwei Meter Länge durchaus imposanten – Welse vom Schlachtensee weniger beeindrucken als kleine Spezialisten wie der Bitterling. Der lebt seine Cleverness beispielsweise im Teufelssee (West) sowie in Nikolassee und Krummer Lanke aus: ein streng geschützter Fünf-Zentimeter- Winzling, dessen Männchen Muscheln so lange anstupsen, bis die ihren Schließreflex aufgeben. So wird der Platz frei für die bis zu 80 Eier, die das Weibchen in die Muschel legt. Vorausgesetzt, die Muschel atmet nicht schon für andere Bitterlingslaiche mit, was das Weibchen wiederum an der Atemluft der Muschel erkennt. Es sind erstaunliche Dinge, die in der Unterwasserwelt geschehen. „Leider ist nicht nur für Laien die Welt an der Wasseroberfläche zu Ende“, sagt Wolter, „sondern auch für Naturschützer“: Vögel und Pflanzen hätten stärkere Lobbys.

Die abenteuerlichste Geschichte ist die der Aale. „Bei denen ist alles anders als bei anderen Fischen“, sagt Susanne Jürgensen. Sie leitet das Fischereiamt, unter dessen Regie gerade die Jungtiere ausgesetzt worden sind. Aale gehören in Gewässer mit Meeresanschluss, sagt die Biologin. Weil ihr Laichgebiet in der Karibik sei. Im Bermudadreieck! Nur dort stimmten Magnetfelder (die angeblich Schiffskompasse irritieren können), pH-Wert und Plankton für den Nachwuchs. Als sogenannte Weidenblattlarven kommen die Aale mit dem Golfstrom nach Europa; kaum zehn Zentimeter lang und ein Gramm schwer. Erst vor Europa würden die durchsichtigen Tiere dunkel und größer, um flussaufwärts zu reisen. Weil der Weg durch Schleusen und Wehre versperrt ist, müssen sie ausgesetzt werden, um nicht auszusterben. Etwa zehn Jahre leben sie hier, bevor sie den Rückweg antreten zum Meer; Anpassung an Salzwasser und Tiefsee inklusive. Auf ihrer Wanderung können sie sogar kurze Strecken über Land gleiten. Doch solange unüberwindliche Spundwände und Schleusentore sie in Berlin einmauern, bleibt das Bermudadreieck ein ferner Traum.

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