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Berlin: Brad Mehldau ist der momentan weltbeste Jazz-Pianist

Er machte das Genre des Piano-Trios wieder zu einem Ort des musikalischen Abenteuers. Freitag spielt er im A-Trane.

Er machte das Genre des Piano-Trios wieder zu einem Ort des musikalischen Abenteuers. Freitag spielt er im A-Trane.Günther Huesmann

Jazz-Götter fahren nicht im goldenen Wagen auf die Erde nieder. Manchmal verkriechen sie sich in Berlin-Weissensee, um in einer zugigen Garten-Baracke Gutes zu tun. Viel her gibt der Bretterverschlag nicht, in dem Brad Mehldau zwei Wochen für seine Solo-CD "Elegiac Cycle" probte.

Mehr als das gestutzte Steinway-Klavier passt nicht an die Wand. Tapfer verrichtet ein kleiner elektrischer Heiz-Lüfter seinen Dienst. Ein verstaubter Billardtisch nimmt den größten Teil des Raumes ein, auf dem grünen Filz liegen Noten. Obenauf Eigenkompositionen, darunter ein paar Jazzstandards, vor allem aber ist es Klassik: Johannes Brahms, Beethovens Klavier-Sonaten - "das Neue Testament", wie Mehldau bedeutungsvoll meint - und Bachs "Wohltemperiertes Klavier" - das "Alte Testament". "Wenn ich Bach höre, habe ich das Gefühl von Freiheit.", erklärt der Pianist, "die Freiheit, Musik multidimensional wahrzunehmen. Wenn bei mir alles sehr gut läuft, und ich über zwei oder drei Melodien gleichzeitig improvisiere, dann hast du das Gefühl, dass in dir plötzlich etwas besonderes passiert. Dass an zwei unterschiedlichen Orten gleichzeitig unterschiedliche Sachen passieren und du dennoch zurücktreten kannst und es von einer objektiven Warte aus beobachten kannst. Die Musik ist dann multidimensional. Ein unglaubliches Gefühl."

Brad Mehldau ist der brillanteste, persönlichste und wagemutigste Jazz-Pianist seit dreißig Jahren. Er polyphonisiert Jazz-Piano. Keiner nimmt es in dieser Hinsicht an Virtuosität, Subtilität und Erfindungsgabe mit ihm auf. Fast im Alleingang hat er das Genre des Piano-Trios - einer Gattung, in der wirklich alles gesagt schien - wieder zu einem Ort des musikalischen Abenteuers gemacht. "Ich höre immer Gemeinsamkeiten zwischen Brahms, Schubert, Schumann und dem späten Beethoven", sagt Mehldau. "Da ist etwas Besonderes, etwas spezifisch Deutsches. Eine emotionale Herangehensweise an Musik, in der gleichzeitig Gefühle unterdrückt werden. Dieses Zurückhalten von Emotionen macht die Musik noch reizvoller und ansprechender. Dieselbe emotionale Wirkung haben Jazzspieler wie Lester Young, Billie Holiday, Bill Evans oder Miles Davis. Indem sie etwas zurückhalten, ist etwas da." Und dann schwärmt der Pianist, der von der Nadel loskam, von der "Punk- und Protest-Energie" der Romantik.

Studiert hat Mehldau den Jazz an der New School of Social Research. Eine reine Pro-Forma-Angelegenheit, eine Beruhigungs-Pille für die Eltern daheim in Connecticut, "damit die mir die Miete in New York bezahlten". Und während die Lieben zu Hause den Pianisten als braven Jazz-Studenten wähnten, schlug sich Mehldau die Nächte in den Clubs des Big Apple um die Ohren und saugte Improvisations-Nektar aus dem Spiel seiner Helden, Cedar Walton und Kenny Barron. Doch selbst die ungeliebten Studier-Stuben der Jazz-Schule hielten Unerwartetes bereit. An der New School of Social Research traf Mehldau auf Fred Hersch, - "für mich der wichtigste Lehrer aller Zeiten. Er half mir wegzukommen von der Bud-Powell-Tradition des Jazzpianos, in der du die rechte Hand einsetzt wie ein Horn."

Brad Mehldau phrasiert eine Musik wider das Grabsch- und Pranken-Syndrom vieler Jazz-Pianisten. Die linke Hand schnappt bei ihm nicht akkordversessen ("wie die Klaue eines Tieres") im tiefen Register herum, sondern sie fädelt ein stupendes kontrapunktisches Flechtwerk ein, das den Melodieerfindungen der rechten Hand in nichts nachsteht und ihnen virtuos Paroli bietet. So räumt Mehldau mit einem lang gehegten Despotismus auf, der die Spielweise vieler Tasten-Virtuosen im Jazz dominierte: den Despotismus der rechten Hand über das Spiel der linken. Die Rechte war der Fürst, der melodische Souverän; was von hier ausging, war Gesetz. Die linke Hand hatte zu folgen; sie war Knecht und Wasserträger, zuständig für akkordische Zubringer-Dienste. Niemand im Jazz von heute hebt dieses Links-Rechts-Schisma so radikal und mit so viel Virtuosität und Raffinesse auf wie Brad Mehldau. Wie Wunder erscheinen seine ausgeklügelt sich kreuzenden Melodielinien, bei denen die Führungsstimme in jeder Lage aufleuchten kann. "Ich wollte weg von der üblichen Einzelnotenmelodie mit einem Akkord darunter". Stattdessen improvisiert Mehldau mehrere Melodielinien gleichzeitig. Unabhängig voneinander verflechten sie sich zu traumhaft swingenden Gebilden zwischen Brahms, Bill Evans, Wynton Kelly und Beethoven.

Zwei Tramper stehen am Straßenrand, verloren in einsamer Nacht. Der eine ist Bill Evans, der andere Keith Jarrett. Endlich streift sie der Lichtkegel eines Autos. Am Steuer sitzt, gerade eine Rilke-Kasette hörend, Brad Mehldau, "der aufregendste Pianist seit Herbie Hancock" (Pat Metheny). Der Mann im Auto hat ein Problem: Welchen von den beiden Trampern soll er zu sich herein winken? Denn Platz hat er nur für einen Mitfahrer. Eine rein hypothetische Frage, gewiß. Aber eine, auf die Brad Mehldau eine schnelle Antwort hat: "Ich nehme Keith Jarrett mit," sagt er. "Die Leute wissen nicht, was für ein Genie Keith Jarrett ist. Für mich gibt es keinen Brillanteren als ihn. Das Album, das er unlängst herausgebracht hat - "La Scala" -: Niemand macht Alben auf diesem Level der Kreativität." Niemand, außer Brad Mehldau vielleicht. "Ich liebe Miles Davis oder John Coltrane nicht so sehr wegen ihrer Soli, sondern wegen der Bands, die sie hatten. Das ist der "spirit" von Jazzmusik: kollektive Improvisation. Und das ist das Aufregende, auf das die Leute in den Clubs hören. Wenn es in einer Band gut klappt, werden dort nonverbal und im Bruchteil einer Sekunde intuitive Entscheidungen getroffen. Entscheidungen auf einem höheren Level als Sprache. Dann gibt es einen musikalischen Disput voller Vertrauen, das die Musiker ineinander haben."

Und vielleicht ist dieses Vertrauen ja auch in seinen Dialogen mit der niederländischen Sängerin Fleurine spürbar. Mehldaus Lebensgefährtin gilt als Könnerin des "Vocalese". Ein Gesangsstil, bei dem Sänger berühmte Jazz-Instrumentals mit eigenen Texten versehen. Fleurine, die nicht immer ganz intonationssichere Vokalistin, hat in New York unter Musikern des Neobop Eindruck gemacht. Morgen läßt sie sich im A-Trane ins Reich aller swingenden Träume tragen - auf den polyphonen Schwingen von Brad Mehldau, dem Glenn Gould des Jazz.Brad Mehldau spielt morgen im A-Trane, 22 Uhr

Günther Huesmann

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