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Auf dem Breitscheidplatz erinnert das zurückhaltend gestaltete Denkmal an den Anschlag kurz vor Weihnachten 2016.

© Stefan Boness/Ipon/Imago

Breitscheidplatz: Noch immer Lücken im Fall Amri

Seit einem Jahr versucht der Amri-Untersuchungsausschuss, die Vorgänge um den Anschlag am Breitscheidplatz zu klären. Eine Zwischenbilanz.

Von Sabine Beikler

Er war ein gewaltbereiter Gefährder und den Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern lange vor dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 bekannt. Aber warum zogen die Behörden Anis Amri durch Haftbefehl oder Abschiebung nicht aus dem Verkehr? Hätte das Attentat verhindert werden können, bei dem der Tunesier zwölf Menschen ermordete und mehr als 60 Menschen zum Teil schwerstverletzte?

Seit einem Jahr ermittelt der Amri-Untersuchungsausschuss im Abgeordnetenhaus Behördenfehler. Die Liste der Versäumnisse und Pannen ist lang und wird wohl noch länger. 28 Zeugen haben die Ausschussmitglieder in 16 Sitzungen bisher gehört. Für ein Gesamtbild reicht das bisher Erfahrene noch nicht.

Denn es fehlen noch viele Akten. 160 Ordner liegen dem Ausschuss bisher vor, weitere 1200 sollen demnächst geliefert werden. Die Akten der Bundesanwaltschaft wird der frühere Sonderermittler und Bundesanwalt Bruno Jost im Auftrag des Ausschusses während der Sommerpause sichten. Ob die Bundesanwaltschaft diese Akten zu laufenden Ermittlungsverfahren für die Arbeit des Untersuchungsausschusses freigeben wird, ist noch völlig offen.

Gibt es bisher neue Erkenntnisse?

In diesem Jahr hat sich der Ausschuss mit den Sicherheitsbehörden befasst und Zeugen aus den Landeskriminalämtern Berlin und Nordrhein-Westfalen sowie dem Bundeskriminalamt befragt. Einige Beamte hatten schon im NRW-Untersuchungsausschuss ausgesagt. Sehr viel Neues hörten die Berliner Parlamentarier nicht, denn die polizeiinterne Task Force „Lupe“ und Sonderermittler Jost veröffentlichten bereits die Versäumnisse und Fehler der Polizei bei der Observation, der Telefonüberwachung und der Vorgangsbearbeitung von Amri.

Allein bei der Berliner Polizei gab es 254 Mängel, davon 32 schwere Fehler; die Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) war „lückenhaft“, die Observation fand nur tagsüber, nicht an Wochenenden statt und wurde Mitte Juni 2016 eingestellt – trotz eines staatsanwaltschaftlichen Beschlusses Amri bis 21. Oktober weiter zu observieren.

Eine Gefährderakte von Amri wurde erst nach dem Anschlag angelegt. Sonderermittler Jost wurde als Zeuge ebenfalls im Ausschuss gehört: Er machte den Ermittlungsbehörden schwere Vorwürfe. Man hätte Amri, der als Drogendealer bekannt war, wegen Delikten wie Drogenhandel oder schwerer Körperverletzung nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung in einer Neuköllner Shisha-Bar wohl festnehmen können.

Amri reiste mit 14 Identitäten quer durch Deutschland. Die Sicherheitsbehörden hatten Amri aber schon Ende 2015 im Visier. Wie gefährlich der Tunesier war, wurde beim LKA Düsseldorf und Berlin unterschiedlich eingeschätzt. In NRW stuften ihn die Behörden auf einer Skala von eins bis acht mit sieben als Gefährder ein. Auch das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) beurteilte ihn als Gefährder. Dort erhielt er die Stufe 5 von 8. Und in Berlin wurde Amri als „einer von vielen Gefährdern“eingestuft, so Staatsschutzchefin Jutta Porzucek. Man habe den „Ernst der Lage“ nicht erkannt.

Als Amri mit Drogen dealte, habe man die Wahrscheinlichkeit eines Anschlags gering geschätzt. Ein LKA-Sachbearbeiter sagte im Ausschuss, er habe Amri als einen weiteren „Stinkstiefel in der Stadt, der nur Ressourcen bindet“ angesehen.

Deutlich wurde bisher im Ausschuss, dass es innerhalb des LKA keinen koordinierten Umgang mit Gefährdern gab, dass die Behörde zwar überlastet war, aber Pannen damit nicht zu erklären sind.

Ungeklärte Wiedersprüche

Das LKA Düsseldorf informierte die Berliner Kollegen am 18. Februar 2016, dass Amri im Flixbus nach Berlin sei. Man bat darum, ihn nach Ankunft verdeckt zu observieren. Das sagten mehrere Zeugen aus. Stattdessen wurde Amri offen kontrolliert und mitgenommen. Wenigstens das Handy konnte auf dringende Bitte des LKA Düsseldorf ausgelesen werden. Über den Ablauf dieses Tages gibt es unterschiedliche Versionen. Eine frühere Berliner LKA-Führungskraft sagte aus, man habe erst eine Stunde nach Amris Festnahme die Information aus Düsseldorf erhalten, Amri verdeckt zu observieren. Das steht im Gegensatz zu Aussagen von LKA-Beamten, das für Observationen zuständige Mobile Einsatzkommando habe auf Anfrage mitgeteilt, es habe keine Kapazitäten. So machten sich drei LKA-Ermittler auf den Weg zum Zentralen Omnibusbahnhof.

Warum die Observation Mitte Juni eingestellt wurde, ist nicht abschließend geklärt. In dem Bericht der Task Force ist zu lesen, dass es kein Dokumentationssystem im Staatsschutz-Dezernat gibt, wen die Beamten in ihrer Prioritätenliste nach oben oder unten setzen.

Offene Fragen

Grünen-Politiker Benedikt Lux hatte gemutmaßt, dass unter der politischen Leitung des damaligen Innensenators Frank Henkel (CDU) Observationsteams abgezogen und im Juni 2017 im Konflikt um die Rigaer Straße und die Räumung der Szenekneipe „Kadterschmiede“ eingesetzt wurden. Ein Zeuge sagte im Ausschuss aus, die linksextreme Szene hätte damals „in der Observationskoordination auf 1“ gestanden. Der LKA-Beamte sagte aber nicht, dass das die Ursache für den Abzug des Teams bei Amri war.

Die Rolle der Justiz und Staatsanwaltschaft muss noch beleuchtet werden. Warum hat sich die Generalstaatsanwaltschaft nicht über die Erkenntnisse der Polizei berichten lassen? Dabei hatte sie für Amri einen Observationsbeschluss bis 21. Oktober erteilt.

Und was wusste der Verfassungsschutz, in dessen Visier unter anderem die inzwischen verbotene Fussilet-Moschee war, die Amri regelmäßig besuchte? Wie das Bundeskriminalamt mit Gefährdern umgeht, ob das BKA im Fall Amri eine bessere Mittlerrolle einnehmen oder gar die Zuständigkeit an sich hätte ziehen sollen, wird wohl den Untersuchungsausschuss im Bundestag weiter beschäftigen.

Die politische Verantwortungsebene muss ebenfalls noch untersucht werden. Wer wusste vom „Fall Amri“? Gab es falsche politische Prioritäten im Umgang mit Extremisten und Gefährdern? In diesem Jahr will der Ausschuss Frank Henkel, Ex-Staatssekretär Bernd Krömer, den früheren Polizeipräsidenten Klaus Kandt und LKA-Chef Christian Steiof hören.

Was sagen Ausschussmitglieder?

Stephan Lenz (CDU) soll als Nachfolger von Burkard Dregger am heutigen Donnerstag zum Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses gewählt werden. Für Dregger rückt der CDU-Abgeordnete Stephan Standfuß nach. Lenz sagte, man werde noch weitere Zeugen aus LKA und BKA und die „politische Spitzen“ von 2016 hören. „Wir sind noch nicht so weit, wie wir sein wollten.“

Amri sei unterschätzt worden, sagte Grünen-Politiker Lux. Aber es gebe bisher keine Anhaltspunkte für ein Netzwerk um Amri. „Hätten die Behörden besser zusammengearbeitet, hätte der Anschlag verhindert werden können“, sagte Linkspolitiker Hakan Tas. Die bisher vom BKA zur Verfügung gestellten Akten seien „wenig aussagekräftig“. Für SPD- Innenpolitiker Frank Zimmermann sind die Beratungen im GTAZ viel zu unverbindlich gewesen. „Wir brauchen einheitliche Gefährderberichte.“

FDP-Politiker Marcel Luthe kritisiert, dass die gelieferten Unterlagen unvollständig seien. „Wir haben bisher nur einen Bruchteil der Akten gesehen.“ Luthe will die Ballistikberichte zur mutmaßlichen Tatwaffe einsehen. Und dass Amri als Einzeltäter gehandelt hat, steht für ihn noch nicht fest. AfD-Politiker Karsten Woldeit will eventuelle Versäumnisse der politisch Verantwortlichen „ans Licht bringen“. Die ausländerrechtliche Bearbeitung von Amri sei ein Skandal.

Wie geht es weiter?

Nach der Sommerpause will der Ausschuss weitere Zeugen aus LKA und BKA hören. Dann folgen die Leitungsebenen aus Politik, Polizei und Justiz. Als einer der letzten Punkte wird sich der Ausschuss mit dem Anschlagstag selbst befassen. Vermutlich wird er seine Arbeit Ende 2019/Anfang 2020 beenden.

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