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Gordon Brown war von 2007 bis 2010 Premierminister von Großbritannien (Archivfoto von 2008).

© AFP

Brexit, May & Farage: "Wiederentdecken, was es bedeutet, britisch zu sein"

Die Brexiteers definieren unser um – und reißen damit unsere Geschichte und das, was es bedeutet, Brite zu sein, an sich. Ihr Patriotismus heißt: Wir gegen die. Ein Gastbeitrag.

- Gordon Brown (Labour Party) war von Juni 2007 bis Mai 2010 Premierminister von Großbritannien und isi inzwischen Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen für globale Bildung und Vorsitzender der Internationalen Kommission „Financing Global Education Opportunity“.

Nach drei Tagen Pomp und militärischen Ehren, die das Bild eines scheinbar unveränderlichen Großbritannien präsentierten, hat US-Präsident Donald Trump London nun verlassen. Aber hinter der prunkvollen Fassade wird Großbritannien nicht nur vollkommen von einem festgefahrenen Brexit-Prozess und der endlosen Debatte darüber in Anspruch genommen, sondern auch von einer weitaus tiefgreifenderen Identitätskrise: einem Ringen um die Wiederentdeckung dessen, was es bedeutet, britisch zu sein.

Es ist eine bittere Ironie, dass diese Woche auch der 75. Jahrestag des D-Days begangen wird, mit dem die Befreiung Europas vom Faschismus begann. Die derzeit regierende Konservative Partei scheint nun wild entschlossen, jeglichem Abkommen mit der Europäischen Union abzuschwören, einen No-Deal-Brexit zu erklären und am 31. Oktober ungeordnet aus der EU auszutreten – ein Ergebnis, das der Erklärung eines Wirtschaftskrieges gegen die kontinentalen Nachbarn Großbritanniens gleichkommen würde.

Der Ärmelkanal ist kein Festungsgraben

Das Großbritannien, das lange Zeit stolz darauf war, pragmatisch, tolerant und fair zu sein, läuft nun Gefahr, einen von Weltabgewandtheit, Intoleranz und Konfrontation geprägten Nativismus auszubilden.

Dabei hat uns unser Inselstatus über Jahrhunderte hinweg den Blick nach außen richten lassen; als Entdecker, Händler, Missionare, Diplomaten und abenteuerlustige Kaufmänner, die den Ärmelkanal nicht als Festungsgraben, sondern als schnelle Verbindung in die Ferne betrachteten.

Wir waren unter den ersten, die politische Toleranz praktizierten. Lange vor der Amerikanischen Revolution, wie der französische Philosoph Montesquieu (vielleicht widerstrebend) zugab, hatte Großbritannien der modernen Idee von Freiheit den Weg bereitet. In den folgenden Jahrhunderten haben wir uns für das eingesetzt, was Winston Churchill als eines unserer wichtigsten nationalen Merkmale definiert hat: den Glauben an das, was er „Fair Play“ nannte.

Aber der kometenhafte Aufstieg der Brexit-Partei, angeführt vom europafeindlichen Nigel Farage, und der Erfolg, mit dem Farage die Bedingungen für die Wahl des nächsten konservativen Premierministers festgelegt hat, lässt die übrige Welt mit der Frage zurück, was mit dem gemäßigten, rationalen, nicht-ideologischen Großbritannien passiert ist, das für seinen Empirismus und den Glauben an evolutionäre statt revolutionäre Veränderung bekannt ist.

Farage hat mehr Le Pen zu tun als mit britischen Werten

Farage hat mehr mit der rechtsextremen Marine Le Pen in Frankreich, mit Trump und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in ihrem mutwilligen Wunsch gemeinsam, jede Institution zu zerstören, die als „global“ oder „europäisch“ bezeichnet wird, als mit traditionellen britischen Werten. Und indem er Patriotismus mit einem primitiven, Wir-gegen-die-Nativismus gleichsetzt, der Einwanderer, Europäer und Muslime ins Visier nimmt und verteufelt, versucht er eine Neudefinition unseres Landes als introvertiert und fremdenfeindlich – und reißt damit unsere Geschichte und das, was es bedeutet, Brite zu sein, an sich.

In einem durchgesickerten 14-seitigen Memo beschreibt Großbritanniens ranghöchster Beamter, dass die Preise bei einem No-Deal-Brexit um zehn Prozent steigen würden, eine Rezession folgen würde und öffentliche Unruhen nicht auszuschließen seien. Darüber hinaus könnte ein ungeordneter Brexit das Aus für das Friedensabkommen mit Nordirland bedeuten und die Union mit Schottland gefährden. Aber dank Farage – und des Faragismus, der von der regierenden Konservativen Partei Besitz ergriffen hat – wird ein Akt der wirtschaftlichen Selbstbeschädigung, der dem nationalen Interesse eindeutig zuwiderläuft, als Inbild des britischen Patriotismus hingestellt.

Die Politik bekommt es mit Kulturpessimismus zu tun

Engstirniger Nationalismus ist keine Krankheit, die sich auf Großbritannien beschränkt: Ein Großteil der Öffentlichkeit in der westlichen Welt betrachtet die Globalisierung als führungslos, ohne menschliches Antlitz und vergleichbar mit einem außer Kontrolle geratenen Zug. Gemäßigte Staats- und Regierungschefs überall müssen jetzt nicht nur auf die wirtschaftliche Unzufriedenheit von Millionen Menschen reagieren, die auf der Strecke bleiben, sondern auch auf den Kulturpessimismus und die Ablehnung von Politikern als „nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht“, die dem populistischen Nationalismus des Trump-Cheerleaders Stephen Bannon und seinesgleichen Vorschub leisten.

Was es in Großbritannien so viel schlimmer macht, ist eine Reihe von groben politischen Fehleinschätzungen während und nach der Referendumskampagne 2016. Während die besiegte Remain-Seite eine Wirtschaftskampagne führte, die sich auf die Angst vor Arbeitsplatzverlusten beim Austritt aus der EU konzentrierte, führte die siegreiche Leave-Seite einen Kulturkrieg, indem sie die Angst vor Einwanderung schürte und auf die Notwendigkeit pochte, dass patriotische Briten „wieder die Kontrolle übernehmen“ müssten.

Großbritannien hätte die EU prägen statt verlassen sollen

Nur ganz am Rande hörten die Wähler das patriotische Argument für einen Verbleib in der EU: Dass Großbritannien sich am treuesten war, wenn es nach außen und nicht nach innen blickte, und dass unsere pragmatische Mission darin bestand, eine führende Rolle in Europa zu übernehmen und nicht es zu verlassen.

Nach der Abstimmung 2016 hätte jede andere Gruppe von Führungsköpfen außer den regierenden Entscheidungsträgern eine nationale Debatte angestoßen, um uns daran zu erinnern, dass ein intoleranter und isolationistischer Nationalismus kein Ausdruck britischer Werte ist, sondern deren Ablehnung. Diese Debatte hat nie stattgefunden.

Nun, da die Regierung von Premierministerin Theresa May zusammenbricht und das Parlament gelähmt ist, hat der Brexit eine Krise offenbart, die so tief ist, dass sie mit traditionellen Mitteln nicht zu bewältigen ist – sei es durch einen Politik-, Führungs- oder Regierungswechsel. Wie in anderen repräsentativen Demokratien wird ein ohnehin schon hauchdünnes Vertrauen in die Politik weiter untergraben, weil politische Parteien ihre traditionellen Rolle, die öffentliche Meinung zusammenzuführen und einen auf fundierten Informationen beruhenden und soliden Konsens herbeizuführen, nicht mehr erfüllen.

Das Parteiensystem umzugestalten wird Jahre dauern

An ihrer Stelle haben Facebook, Twitter und andere soziale Medien einen falschen Eindruck von direkter Demokratie erweckt, in der Staats- und Regierungschefs und ihre Wähler von Gleich zu Gleich miteinander kommunizieren. Selbst im besten Fall fördert das Internet gegenseitiges Anbrüllen ohne Schiedsrichter und im schlimmsten Fall einen Echokammer-Effekt, der Nutzer isoliert und die radikalsten Ansichten verstärkt.

Es kann Jahre dauern, bis das Parteiensystem umgestaltet ist. In der Zwischenzeit können und sollten wir versuchen, eine stärker auf fundierten Informationen beruhende Demokratie aufzubauen. So könnte etwa eine Reihe von Bürgerversammlungen Vertreter der stimmberechtigten Öffentlichkeit einberufen, um Fakten zu hören, Experten zu befragen und spalterische Sichtweisen zu hinterfragen. Solche Gruppen, die sich mit den Themen befassen, sind der beste Weg, um vor einem zweiten Referendum einen Konsens über die europäische Zukunft Großbritanniens zu erzielen.

Das Vereinigte Königreich hätte von Zeit zum Nachdenken profitiert, bevor es 2016 zur Abstimmung kam. Aber es ist noch nicht zu spät. Ich bin sicher, dass sich das britische Volk nach einem solchen Prozess in einem weitaus toleranteren, gerechteren und stärker nach außen gerichteten Land wiederfinden wird, als es die Extremisten wollen, die heute behaupten, in unserem Namen zu sprechen.

- Copyright: Project Syndicate, 2019, www.project-syndicate.org. Aus dem Englischen von Sandra Pontow.

Gordon Brown

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