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Berlin, du stehst still.

© dpa

Brief an eine veränderte Stadt: „Wenn das alles vorbei ist, werden wir Berlin neu erlieben“

Das Coronavirus lässt die Stadt stillstehen, doch die Menschen rücken zusammen. Fürsorglichkeit ist die neue Berliner Schnauze, schreibt unsere Autorin.

Du warst die Stadt der Freiheit. Immer schon. Und jetzt? Was bist du, wenn die Freiheit jedes einzelnen schon beim Verlassen der Wohnungstür beschränkt wird?

Ich schreibe dir, weil gerade eine Zeit der Briefe ist. Man will, man muss ja irgendwie festhalten, was passiert. Wie du dich veränderst, wie wir uns verändern, was dieses verdammte Virus mit dem Leben macht. Gerade mal sechs Wochen sind vergangen, seit der erste Covid-19Patient in der Stadt gemeldet wurde. Kurz danach wurden die Schulen, Kindergärten und Krippen geschlossen und die Läden, Restaurants, Cafés, Bars und Kneipen wurden es auch.

Die Schlangen vor den Clubs sind Schlangen vor Aldi und Rewe gewichen. Berlinerin – 1,50 Meter – Berliner – 1,50 Meter – Sicherheitsmann – Supermarkt. Rein kommen sie alle, die Frage ist nur wann, und ob mit Klopapier wieder raus. Viele tragen ihr Homeoffice-Outfit. Manch einer trägt Maske. Geblümt, kariert oder getigert, sind sie das neue Fashion-Accessoire, das uns im Zweifel voreinander schützt. Sechs Wochen wie ein Jahr. Oder zwei.

Berlin, du stehst still. Versuchst stillzuhalten, während der Frühling durch die Stadt flattert und wir am liebsten alle mit einem Bier in der Hand und unseren Lieblingsmenschen an der Seite draußen in der Sonne sitzen würden. Tempelhofer Feld, Landwehrkanal, Gleisdreieckpark, Müggelsee, auf der klapprigen Bank beim Späti ums Eck. Egal, Hauptsache gemeinsam, weniger einsam. Aber Abstand ist der neue Anstand, und für die Welt, wie wir sie kannten, zahlen wir jetzt zwischen zehn und 25 000 Euro Strafe. Wie ein Warnsignal flattert auf den Spielplätzen rot-weißes Absperrband. Ein bisschen behelfsmäßig sieht das aus. Aber so bist du eben. Polizisten kontrollieren.

Der Spielplatz in Moabit ist mit Flatterband abgesperrt.
Der Spielplatz in Moabit ist mit Flatterband abgesperrt.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Die Krux: Keiner weiß genau, keiner kann genau wissen, wie viele Einschränkungen tatsächlich geboten und wie lange wir gezwungen sind, sie auszuhalten. Aber eines ist ziemlich sicher: Es kann nur gut werden, wenn wir jetzt verzichten. Wenn wir für unsere Freiheit nicht die Gesundheit anderer gefährden. Das Leben findet aktuell, im April 2020, nur kurz mal draußen (Sport oder Bewegung an der frischen Luft und Erholungspausen zwischendurch sind erlaubt) und sonst vor allem zu Hause statt.

Ein bisschen Liebe hamstern

Willst du mit mir am Wochenende gemeinsam allein sein, jeder in seiner eigenen Wohnung? Kontakt mit den Freunden, Eltern, Geschwistern und Großeltern gibt es an Ostern per Telefon oder online via Facetime, Skype und Facebook. Kennst du schon Zoom? Nur kurz mal hören, wie’s einander geht. Hoffentlich gut! So gut es geht. Bleibt gesund! Es tut gut, auch mal ein bisschen Liebe zu hamstern.

Berlin, kennst du deine Nachbarn? Ich jetzt schon. Über mir wohnt ein Musiker und spielt Klarinette. Ich dachte ja immer, es sei eine Oboe, aber ich bin auch keine Musikerin. Unter mir wohnt ein 14-jähriges Mädchen, das davon träumt, Sängerin zu werden und ich will ihr diesen Traum nicht nehmen. Beide spielen und singen jetzt, während ich dir schreibe, aber nicht mehr den ganzen Tag, damit wir uns alle ein bisschen besser verstehen und ich mich konzentrieren kann. Wir halten Abstand. Trotzdem sind wir einigen Menschen, denen wir vorher fern waren, gerade etwas näher. Weil wir miteinander verbunden und aufeinander angewiesen sind.

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Diese Stadt lebt tausend Welten. Immer schon und jetzt auch. Jetzt noch mehr? Da sind die einen, die rasen und rennen und den Alltag und das Leben am Laufen halten. Die Ärztinnen, die Pfleger, die Poltikerinnen, die Polizisten, die Bus-, Bahn- und Taxifahrerinnen, die Online-Lehrer, die Kindernotbetreuer, die Supermarktkassierer, die Journalistinnen, die Müllabfuhr, die Pizzalieferanten. Danke! Und da sind die anderen, für die der Alltag und das Leben gerade wegbrechen oder stillstehen. Überlebt meine Firma? Behalte ich meinen Job? Wann sehe ich meine Liebsten wieder? Ich sehe sie doch wieder, oder? Wie geht es weiter? Weißt du's? Selbst Google, Siri oder Alexa wissen keine Antwort. Das Schlimmste ist die Ungewissheit.

In Sichtweite des Fernsehturms hängen an einem Gabenzaun noch einige Spenden.
In Sichtweite des Fernsehturms hängen an einem Gabenzaun noch einige Spenden.

© Jörg Carstensen/dpa

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt: „Diese Krise weckt unsere tiefsten Ängste.“ Und ich denke daran, Menschen zu verlieren und daran, dass andere Menschen Menschen verlieren. Er sagt aber auch: „Sie ruft das Beste in uns hervor.“ Und ich denke an all diejenigen, die jetzt füreinander da sind. Weil sie sich wichtig sind oder weil es gerade wichtig ist, das zu tun, was sie tun, und dann spielt es manchmal auch keine Rolle, ob man einander überhaupt kennt.

Fürsorglichkeit macht Mut

In ganz Berlin hängen Menschen Lebensmittel und Lebensnotwendiges an Gabenzäune, damit Bedürftige sich bedienen. In meiner Straße haben Kinder einen Regenbogen auf ein Blatt Papier gemalt und an die Tür gehängt. „Alles wird gut. Wir bleiben zuhause.“ Zettel an Hauseingängen bieten Einkaufshilfen an. Im Internet wird aufgerufen, sich an der #Nachbarschaftschallenge zu beteiligen und #Masken zu nähen.

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Auf Spendenplattformen kann man Lieblingsorte finanziell retten. Für meine Kiezkneipe, die mit den gelb-roten Backsteinwänden und dem guten Bier, kamen in nur zehn Tagen 7681 Euro zusammen. Konzerte und Clubabende finden im Wohnzimmer statt. Theater streamen ihre Stücke. Laptop an, Vorhang auf. Auf Balkonen wird geklatscht und gesungen. Menschen machen Mut. Das macht mir Mut. Fürsorglichkeit ist die neue Berliner Schnauze.

Berlins Regierender Bürgermeister, Michael Müller, sagt: „Wir werden über einen sehr, sehr langen Zeitraum Regeln haben.“ Es sei „unstrittig“, dass die Zugangsbeschränkungen für Supermärkte oder die Aufforderung, Abstand zu halten, auch nach einer schrittweisen Wiedereröffnung weiterer Geschäfte gelten müssten. Einen „Tag X“, an dem wir aufwachen und alles mit einem Mal wieder normal ist, wird es, so sehr wir es uns auch wünschen, nicht geben. Und so warten wir weiter, haben manchmal das Gefühl, nichts tun zu können und tun doch so viel mehr als sonst.

Wir versuchen zu bestehen. Versuchen, irgendwie über uns hinauszuwachsen. Wollen die beste Version von uns selbst sein, um das alles irgendwie zu ertragen. Scheitern. Machen weiter. Vielleicht klappt's ja doch noch und wir können irgendetwas von dieser Zeit mitnehmen. Und wenn gerade mal gar nichts mehr klappt? Träumen wir uns für einen Moment in die Vergangenheit und vor allem in die Zukunft. Man kann ja schon mal Pläne schmieden. Sich vorfreuen.

Wenn das alles vorbei ist: Den Alltag feiern

Ein paar „Tagesspiegel Checkpoint“-Leser schrieben uns, sie könnten es kaum erwarten: das italienische Lieblingslokal, das Abbusseln und Umarmen, der Filmabend im Kino, das Bier, der Zoo, der Flohmarkt, die Arbeit, die Menschen, das ganz normale Leben. Eine freut sich sogar aufs Mauerparkkaraoke.

Bald wieder mit Karaoke? Der Mauerpark.
Bald wieder mit Karaoke? Der Mauerpark.

© REUTERS/Annegret Hilse

Vieles kann schön werden. Vieles wird schön werden. Darauf können wir hoffen. Aber, das zeigt sich schon jetzt, nicht alles wird gut. Menschen, die durch dieses Virus ihren Job, ihre Gesundheit, ihre Lieben oder ihr altes Leben verlieren, werden wir mitnehmen und aufbauen müssen. Zusammenhalt wird sich auch dann zeigen – und wichtig.

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Als ich neulich nach Hause kam, guckte ein vielleicht 10-jähriger Nachbarsjunge aus dem Fenster im dritten Stock. In der einen Hand hatte er einen blauen Ballon, in der anderen eine kleine Box, die irgendeinen Popsong dudelte. „Party für alle. Jetzt zuhören“, hat er gebrüllt und die paar Passanten, die gerade vorbei spaziert sind, haben sich gefreut.

Liebes Berlin, wenn das alles hier vorbei ist, machen wir so viele Partys, dass die Stadt zu einer großen wird, okay? Wir werden den Alltag feiern, dich und uns und den wiedergewonnenen Freiraum. Wir werden Berlin neu erlieben. Und ich glaube, es wird umso schöner, weil wir unser Glück nach diesem ganzen Mist miteinander teilen. Wir rücken gerade, das glaube ich zumindest, in dieser oft so anonymen Stadt alle ein bisschen zusammen. Vielleicht behalten wir das einfach bei. Stadt der Freiheit und der geteilten Freude – klingt nicht so schlecht. Was meinst du?

Bis ganz bald! Deine Ann-Kathrin

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