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Brigitte Heinisch: Der Aufstand der Pflegerin

Eines Tages kam die Anweisung, Windeln seltener zu wechseln. Sie ekelte sich nicht. Sie schämte sich.

„Kennst du eigentlich die Kogge?“

„Was?“

„Die Kogge, die Kneipe.“

„Nein, meine Schwester war zehn Jahre älter.“

„Das war oben in Rostock.“

„Mein Geld, das hat einer gestohlen.“

„Keine Sorge, Frau Greiner. Hier ist Ihre Tasche.“

„Wo gehen wir jetzt hin?“

„Nach nebenan. Nach Warnemünde.“

Frau Walter steht auf, gibt ihrer Gehhilfe einen Stoß und schiebt sie Richtung Wohnzimmer. Es ist Mittwochnachmittag in einer Wohnküche in Prenzlauer Berg, sechs alte Damen sitzen hier, plaudern aneinander vorbei, trinken zerstreut ihre Tassen leer und machen sich auf den Weg in die Gegenwart. Frau Walter nähert sich zögernd von der Ostsee, Frau Berg ist noch irgendwo in der Kindheit und Frau Greiner wieder im Friseurladen, wo ihr dauernd Geld geklaut wird. Sie drückt ihre Handtasche fest an sich, als könnte sie aufhalten, was zerrinnt.

Frau Walter, Frau Berg und Frau Greiner, die eigentlich anders heißen, leben in einer Wohngemeinschaft, in der der Humanistische Verband Berlin Menschen betreut, die der Verstand im Stich lässt. Als sie sich rund um den Couchtisch niederlassen wie eine Schar ergrauter Vögel, freuen sie sich über jedes Gesicht, das ihnen irgendwie bekannt vorkommt. „Was ist 33 plus acht?“, fragt so ein Gesicht. „81“, ruft Frau Greiner aus der Tiefe ihres Sessels. Frau Walter kichert. „40!“ „Versuchen Sie’s noch mal“, sagt das Gesicht geduldig. Frau Greiner überlegt lange. Und überlegt. „41!“ Jetzt jubeln alle.

Es ist dies vielleicht nicht das ganz große Glück, aber einer der Momente immerhin, die Brigitte Heinisch wieder an ihren Beruf glauben lassen. Wer sie so sitzen sieht im Kreis ihrer Schützlinge, der kann sich vorstellen, wie es ist, anzukommen nach einer Odyssee. Brigitte Heinisch ist 44 Jahre alt, examinierte Altenpflegerin und eine energische Frau, die starke Hände hat und ein Gesicht, in dem die Gefühle nie lange verborgen bleiben.

Brigitte Heinisch kämpft seit Jahren schon gegen das, was sie „industrialisierte Pflege“ nennt. Drei Kündigungen hat die Pflegerin sich eingehandelt, alle vom Berliner Krankenhauskonzern Vivantes, weil sie sich nicht an die Zustände in seinen Pflegeheimen gewöhnen wollte. Jetzt hat sie hier einen besseren Job, aber den Kampf um das, was hinter ihr liegt, hat sie noch lange nicht beigelegt. Da ist zum einen dieser Prozess, von dem später noch die Rede sein wird. Und dann kriegt sie diesen Film einfach nicht mehr aus ihrem Kopf heraus, in dem alte Menschen durch Gänge geistern, weinend und verwirrt, manchmal schreiend und so allein, dass sie oft nicht mehr wissen, wer sie sind und warum. Manchmal kriecht der Pflegerin auch wieder dieser Gestank in die Nase, von dem, was die Alten in dunklen Ecken hinterlassen haben.

Brigitte Heinisch hat das ganz alltägliche Elend der Altenpflege in Zeiten leerer öffentlicher Kassen gesehen. Sie hat in etlichen Heimen gearbeitet und angepackt und gerochen, was auch ihre Kollegen rochen. Aber gefühlt hat sie offenbar etwas anderes dabei. Menschenunwürdig findet sie die Zustände in manchen Häusern, nicht nur für die Bewohner, sondern auch für die, die sich um sie kümmern sollen.

Brigitte Heinisch, das ist kein Geheimnis, ist vielen Idealen ihrer sozialistischen Jugend treu geblieben, und sie hat sich nie gewöhnt an den kalten Wind der Marktwirtschaft, der durch das soziale Netz der Bundesrepublik fegt. Bis heute wohnt sie in einer Platte im Berliner Thälmann-Park, hier hat sie zwei Kinder allein großgezogen, hat nach der Wende versucht, sich wieder nützlich zu machen, und ist über ABM zur Pflege gekommen. Alte Leute zu besuchen, mit ihnen spazieren zu gehen und all die Schätze auszubuddeln, die in den alten Seelen vergraben liegen, das hat sie gemocht, sofort, sagt sie.

Sie hat sich also umschulen lassen und gelernt, dass helfen auch heißt, „Leistungskomplexe“ abzuarbeiten. Und zu rennen. Als Praktikantin war sie mit einer Kollegin und 28 Heimbewohnern allein im Spätdienst. Ein Jahr später sauste sie schon über einen Flur von 260 Metern Länge, 135 Alte warteten in drei Etagen auf eine Hand voll Pfleger. Was sie in diesem, ihrem ersten Vivantes-Heim kennen lernte, das nennt sie nur trocken „die härtere Gangart“.

Eine Frühschicht etwa, die ging so: 6 Uhr 30, Brigitte Heinisch tritt auf den Flur, an drei Türen leuchten schon die Ruflampen. Sie holt Frau A. aus dem Bett, hievt sie in den Rollstuhl und auf die Toilette. Dort bleibt die alte Dame erst mal, denn es klingelt wieder, Herr B. ist gestürzt. Frau C. braucht eigentlich eine Windel, aber Frau D. kommt zuerst dran, denn sie kann noch protestieren und hat keine Strümpfe an. Frau A. sitzt immer noch auf dem Klo, sie ruft jetzt schon eine ganze Weile. „Du springst herum wie ein Hase“, sagt die Pflegerin. Reden, zuhören, „das baut man halt mit ein“. Und mal ans Bett setzten zu jemandem, der nicht hochkommt? Sie schüttelt den Kopf. Ist im Dienstplan nicht vorgesehen.

Birgitte Heinisch wusste damals nicht, dass das nur der Anfang war. Sie spürte nur diese bleierne Müdigkeit, die ihr in die Knochen kroch, sie sah, wie Kollegen für Wochen krankgeschrieben wurden, während auf der Station immer weniger Personal immer schneller rannte. Nachts stellten Aushilfen Medikamente bereit, auch Psychopharmaka, das ist verboten. Brigitte Heinisch hat protestiert. Sie hat sich nicht beliebt gemacht.

Das Vivantes-Wohnpflegezentrum in Reinickendorf ist ein himmelblauer Neubau, der von außen freundlich wirkt und von innen so, als sei in einem Provinzkrankenhaus die Zeit stehen geblieben. In der Teeküche unterm Dach raucht die Frühschicht sich durch die Pause, und wer hier den Namen Heinisch erwähnt, der wird gleich barsch davon geschickt. In den Fluren darunter sitzen alte Menschen wie versteinert, starren ins Nichts, so als seien sie schon lange nicht mehr da.

Brigitte Heinisch ist 2002 als Pflegerin hierher gekommen und sie hat gehofft, hier würde alles anders. Dieses Gefühl aber, nur gehetzt zu werden, statt anderen Zeit zu schenken, hat sie ganz schnell wieder eingeholt. Da hat sie versucht, den Spieß umzudrehen und ist von der Gejagten zur Jägerin geworden. Sie begann, aufzuschreiben, was sie sah, aber nicht ändern konnte.

„Im gesamten Pflegebereich Erbrechen und Durchfall, ohne Überprüfung“, notierte sie im Januar 2002 in einer Art Notstandstagebuch. Dann fand sie Bewohnerin 505 in ihrem Bett, der alte Rücken übersät mit Ödemen, „Hautarzt bestellt, kommt erst in zwei Wochen“. Brigitte Heinisch hat versucht, ihre Sinne irgendwie wachzuhalten. „Pilzerkrankungen 622, 603, 605, 623, 606, 514, 506, 502“, schrieb sie im November 2003.

Wenig später fand sie heraus, dass eine Bewohnerin sechs Wochen lang ohne Kontrolle im Gips gelegen hatte. „Vielleicht auch mal an die Patienten denken!!“, hatte ein Orthopäde wütend auf einen Zettel geschrieben, mit dem er die Patientin zurück ins Heim schickte. Fragt man ihn heute, ob stimmt, was die Pflegerin erzählt, sagt er: „Klar kann ich das bestätigen, da gibt es katastrophale Missstände. Aber das Heim ist nicht besser oder schlechter als andere.“

Natürlich hat es da Kollegen gegeben, die engagiert waren und ihr Bestes taten. Natürlich war auch Brigitte Heinisch keine Heilige. Sie wurde immer störrischer damals, begann, sich mit Kollegen zu streiten, und geriet im Team ins Abseits. Nach außen hin gab sie sich kämpferisch und resolut, aber innendrin wuchs diese Angst, niemandem mehr gerecht zu werden. Den Kindern nicht, die zu Hause warteten, den Kollegen nicht und am wenigsten den Heimbewohnern.

Auf der Homepage von Vivantes sieht man Bilder von lustigen Senioren, die Zicklein füttern und hübsche Pflegerinnen anlächeln. Die Betreuung alter Menschen „orientiert sich konsequent an der Würde des Menschen“, steht darunter. Hinter den Kulissen geht es nicht ganz so fröhlich zu. 2003 stand der landeseigene Konzern kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Es begann ein rigoroser Sparkurs, dessen Konsequenzen die Patienten zu tragen hatten.

Nach einer Leitungssitzung im Januar 2003 zum Beispiel erfuhr Brigitte Heinisch, dass wegen weiterer Personalkürzungen „Pflegequalität verloren gehen“ werde. Im Sitzungsprotokoll hieß es, die Missstände seien zu verschweigen. Es erschien der Medizinische Dienst der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg und monierte „erhebliche Mängel“ im Haus. Es besserte sich wenig, sagt Brigitte Heinisch. Eines Tages kam die Anweisung, nachts auf Toilettengänge mit Bewohnern zu verzichten und Windeln „nur in Fällen grober Verschmutzung“ zu wechseln. Also ließ sie sie liegen, bis es rauslief. Sie ekelte sich nicht. Sie schämte sich.

Schwer zu sagen, wann sie den Punkt erreicht hat, an dem es nicht mehr weiterging. Brigitte Heinisch erzählt nicht gern von diesen schlaflosen Nächten und den Ängsten, die sie lahm legten. Immer öfter fehlte sie jetzt im Dienst, war ständig übermüdet, manchmal wochenlang krank, und natürlich war das auch schlimm für die Kollegen. Im Dezember 2004 hat sie Vivantes angezeigt. Der Konzern revanchierte sich sofort.

Die erste Kündigung war mit ihren Fehlzeiten begründet. Die zweite mit dem Flugblatt, das sie verteilte. Ein dritte Kündigung kam auch noch.

Ralf Krümmel sitzt im Personalbüro von Vivantes, und wenn er den Namen Heinisch hört, holt er tief Luft und hält sie an. Doch, sagt er nach einer kleinen Kunstpause, er habe Einiges zu sagen zu diesen ganzen Vorwürfen. Er hat sie ja schon in einem Brief weit von sich gewiesen. Sagen aber möchte er jetzt trotzdem nichts, wegen des noch laufenden Verfahrens, „das ist ja ein sehr brisanter Fall“.

Vivantes und Brigitte Heinisch haben sich neulich vor dem Arbeitsgericht wiedergetroffen, und noch ist da kein Urteil gefallen. Aber sie wartet das alles sowieso nicht mehr ab, sie hat inzwischen einen Solidaritätskreis für menschenwürdige Gesundheitsversorgung gegründet und andere getroffen, die auch nicht mehr stillhalten.

Als Brigitte Heinisch zur Spätschicht antritt in der Wohngemeinschaft, in der sie jetzt alte Menschen betreut, kommt Frau Greiner gerade von einem kleinen Spaziergang, Frau Walter und Frau Berg spielen im Wohnzimmer Rommé, und in der Küche duftet ein Kuchen im Rohr. Ein Paradies ist das hier auch nicht, manchmal streiten sich die Alten, wollen heim oder einfach zu ihrer Mutter. Heute nicht, vielleicht morgen, sagen die Betreuerinnen in solchen Zeiten. Dann rätseln die Damen, wann dieses Morgen wohl ist.

Constanze von Bullion

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