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Berlin: Brigitte Keil-Pryor (Geb. 1934)

„Aber in Paris gibt es wenigstens Buchläden!“

Eine junge Frau steht auf dem Bahnhof in Remscheid, der Zug nach Paris fährt ein. Das Jahr 1954. „Denk daran“, sagt der Vater noch einmal, hebt den Zeigefinger, „Paris ist nicht Remscheid. Pass auf dich auf, sei immer pünktlich und anständig.“ – „Ja, ja“ sagt die junge Frau, greift nach ihrem Koffer, drängt sich in das Abteil, zieht das Fenster herunter und ruft lachend hinaus: „Aber in Paris gibt es wenigstens Buchläden!“

Die junge Frau läuft durch Paris. Nirgends Ruinen, Baugruben, kahle Plätze, dafür breite Boulevards, Buchverkäufer am Flussufer, Schaufenster voll Patisserie. Juliette Greco singt im Tabou, Sartre schreibt im Flore, Jack Kerouac betrinkt sich im Gentilhomme.

Brigitte öffnet ihren Koffer in dem engen Pensionszimmer, betrachtet den schweren Mantel, die dunklen Röcke, wirft alles aufs Bett, läuft in das nächste Warenhaus und kauft ein Blumenkleid.

Morgens tunkt sie nun Blätterteighörnchen in ihren Kaffee, blättert nachmittags in den Büchern der Bouquinisten an der Seine, läuft abends mit Jack Kerouac durch die Wagen der Metro, er singt seine Poeme, sie streckt den Leuten einen Hut entgegen.

Der Vater schickt Brigitte nach Stockholm. Sie gehorcht. Mietet eine kleine Wohnung, arbeitet als Übersetzerin, täglich von 9 bis 17 Uhr, ist allein.

Sie spaziert durch den Park der Königlichen Bibliothek, sitzt auf einer Bank. – „Entschuldigung.“ Brigitte schaut auf. „Sie lesen ein deutsches Buch?“ Vor ihr steht eine Frau, jung auch, lächelt freundlich, setzt sich dazu. Dorothea.

Dorothea liebt Brigitte, ihre braunen Augen, den leichten Silberblick, die Geschichten aus Berlin und Paris, ihren Witz. Die Frauen reden, lachen, treffen die Dichterin Nelly Sachs, baden oben ohne, essen Lachs, trinken Weißwein und wollen gemeinsam nach Italien trampen. Einen Tag vorher ruft Brigitte an, sagt die Reise ab. Dorothea steht wie betäubt neben dem Telefon, stumm, ihr fällt der Satz eines Freundes ein: Brigitte ist ein schwankendes Irrlicht.

„Mach was aus deinem Leben“, drängt Ernesto Herzberg, ein deutscher Jude, dem es graut vor den Deutschen, immer noch. Er zahlt Brigitte ein Stipendium. Sie geht nach Berlin, studiert Architektur. Das Zeichnen fällt ihr schwer, ein Sehfehler löst gerade Linien in Wellen auf. Sie bricht das Studium ab. Fährt an die Côte d’ Azur. Lernt dort Isodoro Keil kennen. Geht mit ihm nach New York.

Am Anfang ist es schön. Die Hochzeit, die Tochter, die Stadt. Doch ist das Glück flüchtig, die Ehe bald am Ende. Brigitte verschließt sich. Keine sprühenden Geschichten mehr, matte Augen.

Bis Jacob kommt. 17 Jahre leben sie in New York, an der Lower East Side, gehen in Jazzclubs, in Ausstellungen, ziellos durch die Straßen, Hand in Hand.

Jacob erbt eine kleinere Summe. „Das Geld könnte reichen“, sagt Brigitte – „Ein kleiner Laden. Das Schaufenster voller Bücher. In Berlin. Komm mit mir.“ Brigittes braune Augen leuchten.

1988, Ernst-Reuter-Platz, Kiepert. Hunderte Menschen passieren täglich die Eingänge des Buchkaufhauses, bewegen sich in Aufzügen zwischen den Etagen, kaufen Bestseller.

1988, Knesebeckstraße 13, Antiquarische Bücher. Ein Mann betritt den Laden. Steht auf einem verblassten Teppich, vor überfüllten stählernen Regalen, einem schweren dunklen Schreibtisch. Hinter dem Tisch eine schmale Frau. Der Mann stellt eine Frage, stockend. Die Frau lächelt. Antwortet auf Schwedisch. Geht zu einem der Regale. Sucht. Ruft etwas auf Englisch in den hinteren Raum. Jemand antwortet. Ein Paar kommt zur Tür herein. Die Frau wendet den Kopf: „Bonjour. Un moment, s’il vous plaît!“ Sie sucht weiter, zieht ein Buch, verblasstes Leinen, goldene Buchstaben, hervor, reicht es dem erstaunten Mann.

2007, Knesebeckstraße 13. Jacob sitzt allein hinter dem schweren dunklen Schreibtisch. Hin und wieder betritt jemand den Laden. Das Buchkaufhaus Kiepert am Ernst-Reuter-Platz gibt es schon lange nicht mehr. Tatjana Wulfert

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