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Berlin: Bühne frei für Ihre Wohnung

Privatleute öffnen ihre Türen für ein ungewöhnliches Projekt des Theaters „Hebbel am Ufer“. Das hat Fatih Akin, Neco Celik und viele andere Filmemacher eingeladen, ein Stück wirkliches Leben zu inszenieren

Dieter P. nimmt seine Brille ab und sagt: „Alle Boxer sind sentimental.“ Er ist selber einer. Ein ehemaliger Halbschwergewichtler, der gern traurige Filme guckt und oft zum Grab seiner Frau geht. Und weil sie viel geraucht hat, steckt er jedesmal eine brennende Zigarette in die Erde.

Solche Geschichten erzählt Dieter P., wenn man ihn in seiner 25-Quadratmeter-Wohnung am Kottbusser Tor besucht. Und solche Geschichten können diejenigen hören, die das Theater-Projekt „X Wohnungen Berlin 2004“ besuchen. 20 Filmemacher und Schauspieler haben in 23 privaten Wohnungen in Kreuzberg und Lichtenberg kleine Szenen, Stücke oder Installationen vorbereitet, je zehn Minuten lang. Die Zuschauer wandern durch die Wohnungen und erleben mal deren Bewohner als Personen in einer Inszenierung, die Teil ihres Lebens ist, mal hören sie nur von ihnen, und einige Wohnungen sind auch leer. Das Theater „Hebbel am Ufer“ hat die Federführung, die Idee stammt von seinem Intendanten Matthias Lilienthal.

Dieter P. hat auf einem Bewohnertreffen am Kottbusser Tor davon gehört. Und war von der Idee, das Theater in seine Wohnung zu holen, spontan begeistert. Umgekehrt – dass also P. ins Theater geht – funktioniert es nämlich nicht. Zuletzt besuchte P. ein Schauspielhaus vor etwa 25 Jahren. War immer zu viel los in seinem eigenen Lebenstheater. Bis heute. Dieter P. kocht für Nachbarn und Verwandte, füllt Formulare aus für die Türken und Araber in seinem Hochhaus, hilft mal beim Renovieren und sorgt vor allem für Sauberkeit in den Aufgängen und im Fahrstuhl. Macht er ehrenamtlich. Wegen der Boxer-Sentimentalität. P. wird nicht zu Hause sein, wenn die Besucher kommen. Aber seine Stimme wird erzählen. Als Toninstallation.

Auch Berlinale-Gewinner Fatih Akin („Gegen die Wand“) ist mit dabei. Der Hamburger hat sich zusammen mit dem Berliner Autor Feridun Zaimoglu eine leere Wohnung in der Frankfurter Allee ausgesucht. Was sie da machen, sei großes Geheimnis, sagt Kirsten Hehmeyer, Sprecherin des „ Hebbel am Ufer“. Fatih Akin, dessen Filme sich immer mit Türken in Deutschland beschäftigen, habe extra nichts in Kreuzberg machen wollen, sagt sie. So landete er tief im Osten. Unter den Lichtenbergern, die ihre Wohnung für das Projekt öffnen, sind auch vier Vietnamesen. Und Renate Reich.

Renate Reich wird anwesend sein, wenn die Besucher kommen. Sie hat da keine Scheu. In ihrer Wohnung gibt es keine Geheimnisse. Jeder darf mal ins Schlafzimmer gucken oder auf den Balkon mit den Gartenzwergen. Die Theaterleute müssen nur die Schuhe ausziehen, wenn es draußen nass ist, wegen der hellen Auslegeware. Dafür bekommen sie jede Menge Tee serviert, auf Wunsch auch mit Schuss. Filmregisseur Neco Celik war von Frau Reich gleich angetan. Ihre mit allerlei Puppen und Porzellan verzierte Wohnung erinnerte ihn doch sehr an seine Ex-Schwiegermutter. Die ist auch aus dem Osten.

Viel inszenieren muss man bei Frau Reich nicht, sagt Celik. Das übernimmt die ehemalige Kindergärtnerin selbst. „Ich versuche immer, im Mittelpunkt zu stehen.“ Deshalb lässt sie sich gerne in Talkshows einladen: „einmal über Kitsch bei Vera am Mittag, dann bei Bärbel Schäfer über Gefahren im Straßenverkehr.“ Als es mal um Schuldenmachen ging, beharrte sie darauf, dass keiner Schulden machen müsse. Sie habe auch noch nie Schulden gemacht. Das war zwar geflunkert, verfehlte aber nicht seine Wirkung. Renate Reich sammelt außerdem Fotos, auf denen sie mit Prominenten zu sehen ist. Rund 1000 hat sie schon zusammen. Dieter Bohlen, Michael Schumacher und und und. „Frau Reich ist komplett auf die Außenwelt gerichtet“, sagt Celik und wird von der Beschriebenen prompt korrigiert: „Im Winter, na, dann kehr ick auch in mir.“ Celik möchte Frau Reich an eine Art Lügendetektor anschließen, um sie bei Schwindel-Geschichten öffentlich zu überführen. Er denkt an eine „Reality- Soap“ mit hohem Unterhaltungswert. Frau Reich ist alles Recht.

Das Wohnzimmer als Bühne probieren die Filmemacher nicht nur an anderen aus. Harun Farocki macht auch mit bei dem Projekt und hat laut Hebbel-Sprecherin Hehmeyer sofort zugesagt – aber nur, wenn er seine eigene Wohnung benutzen dürfe.

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