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Berlin: Bürgergesellschaft ist ein Mittel gegen Politikverdrossenheit

Wir brauchen Bürger, die sich mitverantwortlich für das Ganze fühlen

Von Johannes Bohnen Berlin ist aus eigener Kraft nicht mehr überlebensfähig. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes müsste jedem gezeigt haben, wie es um die Hauptstadt bestellt ist. In dieser Situation verfolgt der Senat eine Politik des „weiter so“ , während die Wahlbeteiligung ab und die Parteien- und sogar Demokratieverdrossenheit zunimmt. Unsere mentale Abhängigkeit von einem zunehmend überforderten Staat hat uns in die Sackgasse geführt. Was ist zu tun?

Wir müssen einen Perspektivwechsel vornehmen und begreifen, dass die Idee einer Bürgergesellschaft kein Notnagel für eine Zeit ist, während der es im sozialen Bereich brennt. Es ist das gesellschaftliche Leitbild, das unser künftiges Zusammenleben strukturieren kann. Die Bürgergesellschaft steht für mehr als Nachhilfeunterricht, Suppenküche und Bürgerstiftung. Sie ist das schlagende Herz des Gemeinswesens. Zur Bürgergesellschaft kann jeder gehören, der sich für andere oder die Allgemeinheit engagiert. Das unterscheidet den Begriff der Bürgergesellschaft auch von dem des Bürgertums.

Doch wie gewinnt diese Bürgergesellschaft Kontur? Wie kann sie sich besser organisieren? Wir agieren in Teilgesellschaften. Die Menschen sind Lehrer, Ärzte und Handwerker oder Mitglieder eines Sport- und Kulturvereins, aber selten Bürger, die sich mitverantwortlich für das Ganze fühlen. Es gilt das Bewusstsein für diese Problematik zu schärfen. Forderungen an die Politik und andere gesellschaftliche Gruppen sind unehrlich, wenn sie nicht über das Eigeninteresse und die Karriereoptimierung hinausgehen. Ein aufgeklärter Egoismus und die Verantwortung für die Nachkommen weisen den Blick über den Tellerrand.

Wir benötigen eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die von einem Nebeneinander zu einem Miteinander führt. In der Wissenschaft werden die Entdeckungen kaum noch innerhalb der Disziplinen, sondern an deren Schnittstellen gemacht. Mit der Gesellschaft verhält es sich ähnlich. Deshalb sollten wir uns folgende Fragen stellen: Wo liegen die Schnittstellen, Synergien und Potenziale zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen, zwischen Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Medien? Wo und wie können Spielräume genutzt und erweitert werden? Welche konkreten Entwicklungsaufgaben leiten sich daraus ab? Wie erreichen wir Nachhaltigkeit?

Diese Vernetzung muss professionell gestaltet werden. Bürgerschaftliche Initiativen und Projekte sollten sich konsequent Partner suchen, die sie in Fragen des Managements, der Prozesssteuerung, des Rechts oder der Öffentlichkeitsarbeit beraten. Zur Professionalisierung gehört auch, die Sprechfähigkeit gegenüber Staat und Politik zu stärken. Die Bürgergesellschaft sollte sich hier maximal kooperativ verhalten, aber gleichzeitig Handlungsdruck aufbauen, innovative Ideen einbringen und neue Formen der Zusammenarbeit erproben. Messbare Erfolge der Bürgergesellschaft werden den Staat und die Parteien zu besseren Angeboten treiben. Am Ende dieses Emanzipationsprozesses werden Bürger und Politiker sich auf Augenhöhe begegnen.

Die Politik wäre gut beraten, eine solche Entwicklung nicht als Kampfansage, sondern als sinnvolles Kooperationsangebot selbstbewusster Bürger anzusehen und ihre Programmatik, Parteistrukturen und Rekrutierungsmechanismen entsprechend anzupassen. Politische Entscheidungsträger sind oft misstrauisch gegenüber einer aktiven Bürgergesellschaft. Zu Recht wittern sie Machtverlust, zu dem sie, eingeübt in alte Rituale, noch nicht bereit sind. Dabei werden leider die Chancen übersehen. Denn Berlin hat keine finanziellen und kaum noch politische Handlungsspielräume. Um in dieser Situation neues Vertrauen zu erwerben, muss Politik erfolgreich sein – übrigens das beste Mittel gegen Politik- und Demokratieverdrossenheit.

Dies gelingt nur, wenn sie sich auf ihre Kernkompetenzen konzentriert (zum Beispiel Sicherheit, Infrastruktur, Bildung) und in bestimmten Bereichen zu Machtverlust bereit ist. Erst jetzt, mit dem Rücken zur Wand stehend, entdecken Politiker bürgerschaftliches Engagement als einen möglichen Ausweg aus der Misere. Das ist besser als nichts, aber auch bedauerlich, denn die Bürgergesellschaft sollte als ein gesellschaftspolitisches Leitbild und nicht als Reparaturbetrieb verstanden werden. Für die notwendige Weiterentwicklung unserer Demokratie muss der reformerische Impuls daher stärker aus der Mitte der Gesellschaft kommen.

Denn im Politikbetrieb mit seinen ideologischen Handlungsmustern geht es in erster Linie um Macht. Und die ist resistent gegen Reformen, vor allem die, die den Betrieb stören. Um Wahlen zu gewinnen, versprechen Politiker, Probleme zu lösen, für die sie keine Kompetenz besitzen oder zukünftige Generationen bezahlen lassen. Die Bürger sind leider ein Produkt dieses Politikstils – träge, meckernd, fordernd, zunehmend unmündig und unpolitisch. Es ist daher Zeit für eine zweite Demokratiesierungswelle der Bundesrepublik – weg von der Sozialstaatsgesellschaft hin zu einer Bürgergesellschaft.

Dafür brauchen wir Bürger, die nicht nur ihr eigenes Ding machen wollen. Von diesen Bürgern gibt es viele; sie erhoffen sich jedoch Angebote, die das Engagement lohnen. Der Hauptstadtkongress, der 2005 erstmalig mit mehr als 1000 Teilnehmern stattfand, will dazu einen Beitrag leisten – als ein regelmäßiges Forum, auf dem anspruchsvoll über die Zukunft und Stärkung der Berliner Bürgergesellschaft diskutiert wird. Gleichzeitig werden erfolgreiche „Leuchtturmprojekte“ analysiert und neue lohnende Projekte vorgestellt.

Der Autor ist Initiator des Hauptstadtkongresses (www.hs-kongress.de), der ab heute zum dritten Mal stattfindet.

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