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Diesen Montag haben besonders viele Geflüchtete Geburtstag – zumindest auf dem Papier.

© Kay Nietfeld/dpa

Bürokratie in Berlin: Warum viele Geflüchtete Neujahrskinder sind

Wegen eines bürokratischen Zufalls betreut Mitte so viele Flüchtlinge wie kein anderer Bezirk. „Ein Irrsinn“, findet man nicht nur dort.

Der erste Tag des neuen Jahres ist in doppelter Hinsicht ein besonderer: Zum einen nüchtern da unzählige Silvesterfeiernde aus – zum anderen haben am Neujahrstag deutlich mehr Menschen in Berlin Geburtstag als an anderen Tagen des Jahres. Der 1. Januar steht nämlich bei Tausenden aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern gekommenen Geflüchteten als Geburtstag im den Papieren.

Anders als in vielen Herkunftsländern, wo Geburtstage nicht so gefeiert werden, dürften inzwischen etliche der „Newcomer“ bei Tee und Gebäck von Gratulanten umarmt werden – oder bei Bier und Zigarette plauschen.

Einem Protagonisten der Geflüchteten-Versorgung in Berlin ist bei dem Massengeburtstagsdatum weniger zum Feiern zumute: Dem Bezirk Mitte, der durch bürokratischen Zufall zuständig für alle im Januar geborenen Geflüchteten mit geklärtem Asylstatus ist – und damit für fast ein Drittel aller Flüchtlinge in Bezirkszuständigkeit.

„Ein völliger Irrsinn“, wie Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Bündnis 90/Die Grünen) befindet. Er fordert eine neue Regelung vom Senat.

Zwölf Monate, zwölf Bezirke

Mitte versorgt allein 8000 Geflüchtete, bei denen der Januar als Geburtsmonat eingetragen ist – die übrigen gut 16 000 Personen teilen sich die elf anderen Bezirke. Die Hälfte der 8000 Geflüchteten hat in den Papieren einen 1.1. als Geburtstag stehen. Stephan von Dassel wünscht sich, der Senat hätte fürs neue Jahr den Vorsatz, diesen „der Integration entgegenwirkenden Zustand endlich zu beenden“. An die Zuständigkeit der Bezirke gingen zuletzt mehr als 24 000 Geflüchtete über.

Zwölf Monate, zwölf Bezirke – so wurden die Flüchtlinge, die nach einem Asylentscheid nicht mehr in Zuständigkeit des Landesamtes für Flüchtlinge sind, in Berlin nach dem Geburtsmonat auf die Bezirke nach laufender Nummer verteilt, also eins Mitte, zwei Friedrichshain-Kreuzberg mit Februar und so weiter, der Dezember ging an Reinickendorf mit Nummer zwölf.

Solange das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge keinen Bescheid zur Entscheidung in einem Asylverfahren getroffen hat, sind die Menschen noch in Zuständigkeit des Landesamtes für Flüchtlingsfragen – auch hier sind viele Neujahrskinder.

Je mehr und schneller das Bamf Entscheidungen fällt, desto mehr Personen übernehmen die Bezirke. Das Flüchtlings-Landesamt betreut derzeit 25 250 Flüchtlinge mit noch laufendem Asylverfahren. Seit 2015 sind 80 000 Flüchtlinge aus Krieg, Krise oder mit Hoffnung auf bessere Lebensperspektiven in der Stadt neu angekommen.

Weil der Geburtstag keine Rolle spielt

Dass so viele Flüchtlinge in ihren Papieren den 1.1. eines Jahres als Geburtstag verzeichnet bekamen, ist dabei teils durchaus gewollt. Seit dem Zuwanderungsboomjahr 2015 erreichten Zehntausende und mehr Menschen Deutschland, die ihre Papiere tatsächlich auf der Flucht verloren hatten – oder dieses zumindest den Behörden gegenüber angaben, auch wenn sie Dokumente bewusst weggeworfen oder nicht mitgenommen hatten.

Jene Zuwanderer wollten die deutschen Behörden auch statistisch besonders ausweisen können, wobei sich die Länder auf den 1. Januar als Stichtag geeinigt hatten. Eigentlich war es der sogar der 0.1., aber den akzeptierten die Computer nicht.

Den 1. Januar schreiben auch die Behörden noch im Ausgangsland Afghanistan oder Syrien oft selbst ins Dokument, wenn der Mensch gar nicht weiß, wann er eigentlich auf die Welt kam, weil der Geburtstag als Fest keine Rolle spielt. In Afghanistan gibt es noch dazu einen ganz anderen Kalender. Bei vielen jungen Männern aus Syrien steht auch der 15. Januar in den Papieren – in ihrem Herkunftsland ist dies der Tag des Schulbeginns.

Etliche Pässe wurden auch bei den Registrierungsstellen in Berlin als gefälscht aus dem Verkehr gezogen. Die Frage nach dem realen Geburtsdatum stellt sich gerade auch im Fall eines Afghanen, der in einer Drogerie in Rheinland-Pfalz seine 15-jährige Freundin erstochen haben soll. Er gab an, 15 zu sein – andere halten ihn für viel älter. Je jünger Geflüchtete sind, desto länger bleiben sie in der Jugendhilfe, bis zum18. Lebensjahr können sie nicht abgeschoben werden.

"Die Lage ist bizarr"

Was den 1. Januar als Geburtstag angeht, haben „die anderen Bezirke meist nur sechs oder sieben Prozent der an die Bezirke Überwiesenen in ihrer Zuständigkeit“, kritisiert Stephan von Dassel. Er bekam zwar mehr Personal, „die Lage ist trotzdem bizarr und dient nicht der Integration“.

Zum einen ist es nicht jedem Sozialarbeiter möglich, mit der S-Bahn eine Stunde hin und zurück zu einer Unterkunft in Marzahn-Hellersdorf oder Spandau zu fahren. Zum anderen fehle der eine oder andere Flüchtling von weiter weg im Integrationskurs in Mitte oder komme nicht pünktlich zum Termin ins Amt.

Er findet: „Die bezirkliche Verteilung sollte dringend nach dem Wohnortprinzip gehen“, zumal da ja ohnehin schon die bezirklichen Jugend- oder Gesundheitsämter zuständig seien. Und wenn ein Familienmitglied, etwa eine ältere Ehefrau oder der Vater, nachziehe und damit als Haushaltsvorstand gelte, wechsele plötzlich sowieso wieder die Zuständigkeit – entsprechend dem Geburtstag der nachgezogenen älteren Person auf den Monats-Bezirk, und alles gehe mit den Behörden wieder von vorne los.

Für den Bezirksbürgermeister gibt es nur eine sinnvolle Lösung: „Da, wo die Menschen eine Unterkunft auf längere Zeit bezogen haben, also beispielsweise in den Modularen Unterkünften (MUF) oder den Tempohomes, da sollte das Wohnortprinzip gelten.“ Vom Senat, der den Zustand mit einer Arbeitsgruppe lösen wolle, erwartet er eine „schnelle Handhabe im Sinne der Integration“.

"Problem erkannt"

Bei der Senatsverwaltung für Soziales von Senatorin Elke Breitenbach (Linke) ist der Zustand „als klares Problem bekannt“, sagt Sprecherin Regina Kneiding. Es gelte aber, „ein Einvernehmen zwischen den Bezirken herzustellen“, und das gebe es derzeit nicht. Einige Außenbezirke verwiesen nämlich wiederum auf recht viele MUFs oder Tempohomes.

Der 1. Januar ist für Angehörige im Herkunftsland während des Asylprozesses auch ein Schicksalstag, wenn es um die Volljährigkeit geht. Am Geburtstag 1. Januar fallen darüberhinaus viele nun 18-Jährige als Erwachsene aus der Berliner Jugendhilfe heraus; Betroffene mussten zuletzt teils unverzüglich vom Jugendwohnen mit Bezugsbetreuer, Computerspielen und Hausaufgabenhilfe sowie einem ehrenamtlichem Vormund in eine Massenunterkunft zu Erwachsenen ziehen.

Jugendhilfe mit Hilfen zur Erziehung kann zwar verlängert werden, das muss aber rechtzeitig passieren – und es muss sich überhaupt jemand kümmern.

Laut Iris Brennberger, Sprecherin der Senatsjugendverwaltung, sind derzeit 166 ohne ihre Eltern hier angekommene Kinder und Jugendliche, die angaben, unter 18 Jahre alt zu sein, in Clearing-Einrichtungen des Landesjugendamtes. Aktuell 2300 von der Familie geschickte oder auf eigenen Wunsch allein gekommene junge Flüchtlinge, davon 1400 Minderjährige, wurden nach der Clearing-Phase den Bezirksjugendämtern für deren Hilfen zur Erziehung übergeben.

2015 waren 4252, vergangenes Jahr 1381 und 2017 fast 900 hergekommen – das jüngste ohne Eltern angekommene Kind ist sechs Jahre jung.

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