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BVG-Streik: Solidarität auf der Autoscheibe

Der Streik weckt Erinnerungen an die „Rote Punkt“-Aktion aus den Siebzigern. Damals protestierte man mit dem Aufkleber auf der Windschutzscheibe gegen zu hohe Fahrpreise.

Bei Sammlern musikalischer Raritäten müsste die runde Plastikscheibe aus dem Jahr 1972 hochbegehrt sein: eine Folien-Single von Ton Steine Scherben, vorne drauf der Schwarzfahrer-Song „Mensch Meier“, geschrieben anlässlich einer Fahrpreiserhöhung der BVG, auf der B-Seite ein Interview-Potpourri mit Fahrgästen zum selben Thema. Es war der Beitrag der Berliner Anarcho-Rocker zu einem antikapitalistischen Kleinkrieg, der sich in den frühen Siebzigern in vielen westdeutschen Großstädten und auch West-Berlin entzündet hatte und auf den Frontscheiben privater Autos eine Aufkleber-Epidemie auslöste: die Aktion „Roter Punkt“.

Mit solch einem Stück farbiger Selbstklebefolie signalisierte der Autobesitzer, dass er die in seinem Wohnort anstehende Fahrpreiserhöhung der kommunalen Busse und Bahnen ablehne und als praktischen Protest Anhalter mitnehmen wolle – die legale Variante des Null-Tarifs, für den sich auch Ton Steine Scherben mit ihrer Schwarzfahr-Variante stark gemacht hatten. Nicht nur unter Hannoveranern legendär ist die erfolgreiche Aktion im Juni 1969, bei der fast jedes zweite Auto mit rotem Punkt fuhr und die Fahrpreise zuletzt tatsächlich wieder gesenkt wurden.

Auch in Berlin mit seiner damals rebellischen Studentenschaft war der rote Punkt auf den Straßen omnipräsent, er galt in linken Kreisen geradezu als Hoheitszeichen der richtigen Gesinnung. Auf Firmenparkplätzen allerdings bekamen Halter von Autos, deren Windschutzscheibe solch ein runder Aufkleber zierte, oftmals Ärger mit ihren Chefs. Und mit der Zeit blieben auch Anhalter zunehmend am Straßenrand stehen, ohne dass die plakativ fortschrittlichen Fahrer sie beachteten: Der rote Punkt löste sich allmählich von der Ur-Bedeutung als Einladung zum Trampen.

Noch einmal aber lebte, mit und auch ohne roten Punkt, die Solidarität gegenüber unfreiwilligen Fußgängern auf. Nur ging es da nicht mehr um Ticketpreise, sondern wie heute um einen Tarifkonflikt. Das war im Februar 1974, beim bundesweiten dreitägigen Streik der Gewerkschaft ÖTV. Auch in West-Berlin standen die U-Bahnen und Busse der BVG still, bald auch, aus politisch durchsichtiger Solidarität, die S-Bahn der Reichsbahn, wovon sich die ÖTV distanzierte. Es gab, von den Firmen teilweise mitorganisiert, Fahrgemeinschaften, dazu unter Autofahrern eine hohe Bereitschaft zur Mitnahme von Streikopfern – und zuletzt für die ÖTV eine Zusage von elf Prozent Einkommensverbesserung. Auch die BVG zeigte sich großzügig und entschädigte, heute undenkbar, die Besitzer von Dauerkarten. Andreas Conrad

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