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Charité-Prozess: „Betriebsblindheit und Defizite an Zivilcourage“

Nach den Patiententötungen in der Charité zogen Prüfer Bilanz. Die Klinikleitung plant nun Veränderungen.

Die Diagnose wird vorsichtig-freundlich mitgeteilt, doch sie lässt eine sofortige Behandlung angeraten scheinen. „Gewisse Kommunikationsdefizite, eine gewisse Betriebsblindheit, ein gewisses Obrigkeitsdenken, Defizite an Zivilcourage und Defizite in der Ausübung der eigenen Verantwortung“ habe man auf der Station 104i der Charité ausgemacht, sagte der Schweizer Intensivmediziner Peter Suter gestern, knapp zwei Wochen nach der Verurteilung der Krankenschwester Irene B. wegen fünffachen Mordes an Patienten. Suter ist Mitglied der vierköpfigen Kommission „Patientensicherheit“, die vom Vorstand der Charité Ende April berufen worden war, um in Gesprächen mit Ärzten und Pflegekräften der Station Probleme zu ermitteln und Maßnahmen zu deren „Therapie“ vorzuschlagen.

Der menschliche Kontakt auf der Station sei nach dem Eindruck der Kommission zwar gut, doch habe offensichtlich der Mut gefehlt, eine Kollegin direkt auf ihr Fehlverhalten anzusprechen, sagte Suter weiter. „Wir fanden, dass die Kollegialität das nicht rechtfertigt.“

Die Kommission empfiehlt der Charité, das bereits eingeführte Fehlermeldesystem CIRS („Critical Incident Reporting System“) auf Intensivstationen in besonderer Form anzuwenden: Dazu sollte auf jeder Station eine Gruppe von zwei Pflegekräften und einem Arzt gebildet werden, die in Teamsitzungen anonymisiert Probleme erörtert und Lösungsmodelle erarbeitet. Auch sollten regelmäßig Team- und Fallbesprechungen stattfinden, die Weiterbildung zu Fragen der Ethik in Grenzsituationen des menschlichen Lebens sollte verbessert werden.

Nicht zuletzt empfiehlt die Kommission der Charité aber, die Intensivstationen zu größeren, fachübergreifenden Einheiten zusammenzulegen. Das sei schon deshalb nötig, weil die schwer kranken Patienten sich mit ihren Leiden nicht an die Grenzen der Fachgebiete halten. „Die Station 104i hat möglicherweise eine nicht optimale Größe“, so Suter. In größeren Einheiten, wie sie in der Schweiz üblich sind, sei sichergestellt, dass rund um die Uhr ein ausgebildeter Arzt anwesend ist, außerdem seien die Pflegekräfte eher vor einseitigen Belastungen geschützt.

„Die Kommission hat uns ausgesprochen hilfreiche Dinge gesagt“, sagte Ulrich Frei, Ärztlicher Direktor der Charité. Schon seit 2004 würden auf dem Campus Virchow und dem Campus Benjamin Franklin Intensivstationen in größeren organisatorischen Einheiten zusammengefasst. Zudem sei eine bauliche Zusammenführung der Stationen des Campus Mitte vorgesehen.

Pflegedirektorin Hedwig Francois-Kettner berichtete, dass den Pflegekräften der Charité inzwischen verstärkt Supervision und psychologische Teambegleitung angeboten werde. Keiner der direkt in den Fall Irene B. verwickelten Mitarbeiter sei noch auf der Station 104i tätig. Ein Oberarzt und einige Pflegekräfte arbeiten jetzt auf anderen Stationen, die leitende Pflegekraft wurde beurlaubt. Noch gebe es keine dienstrechtlichen Konsequenzen, eine entsprechende Prüfung sei aber auf der gesamten Station vorgesehen. Intensivmedizin setzt nach Suters Worten ein hohes fachliches Niveau und kontinuierliche ethische Reflexion voraus. Die Kommission betonte, dass die Station, auf der Irene B. eingesetzt war, weder in ihrer Behandlungsstatistik noch in der personellen Zusammensetzung außergewöhnlich erscheint. Aus traurigem Anlass könnte es der Charité, wie Frei hofft, aber jetzt gelingen, „mit Strukturveränderungen beispielhaft zu sein“. Das könne helfen, Fälle wie den der Irene B. unwahrscheinlicher zu machen, „verhindern kann es sie allerdings nicht“. Adelheid Müller-Lissner

Adelheid Müller-Lissner

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