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Ein Banner in der Charité: "Werter Herr Müller, Pflegenotstand = Chefsache". Der Berliner Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat inzwischen reagiert - und zu Recht auf die Bundesregierung verwiesen.

© Gambarini/dpa

Charité-Streik: Die Bundesregierung muss die Pflege ins Zentrum stellen

Im Wahlkampf ging es gern um Dieselmotoren, Sicherheit und die AfD. Nur um das Drama in Kliniken und Heimen ging es kaum. Ein gesellschaftlicher Kraftakt ist nötig. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Hannes Heine

Monatelang haben sich die Wahlkämpfer intensiv mit allerlei Fragen zu Dieselmotoren, der inneren Sicherheit oder den Ausfällen der AfD befasst. Unbestritten, es geht dabei um die Zukunft der deutschen Schlüsselindustrie, das Alltagsgefühl vieler Bürger und unsere politische Kultur. Zu einer in wenigen Jahren drohenden, von Betroffenen immer wieder skizzierten Katastrophe aber fand auch Kanzlerin Angela Merkel erst einige Tage vor der Wahl wenige Worte – und eher vage.

Nun ist der Pflegenotstand doch noch zum Wahlkampfgespräch geworden. Und das hoffentlich nicht nur in Berlin, wo an diesem Dienstag wieder Pflegekräfte der Charité streiken und auch Kollegen anderer Kliniken vor dem Bundesgesundheitsministerium für mehr Personal auf den Stationen demonstrieren. Wer auch immer in der neuen Bundesregierung sitzen wird – hoffentlich hören die Damen und Herren zu, denn bald lässt sich das Desaster, vor dem Pflegekräfte, Mediziner und Patientenvertreter warnen, kaum noch abwenden.

Hunderttausende Pflegekräfte fehlen

Selbst wenn sich das Land damit begnügt, dass Kranke eben Pech haben und im Alter unschöne Jahre im Heim dazugehören, wenn also Elend als Schattenseite einer sonst ganz angenehmen Gesellschaft begriffen wird, bleibt: Die Zahl pflegebedürftiger Senioren steigt schon wegen des medizinischen Fortschritts, die der Patienten allgemein wegen des Bevölkerungswachstums.

Allein um die heute übliche Versorgung zu halten, also nicht zu verbessern, bräuchte das Land bis 2030 hunderttausende neuer Pflegekräfte. Schon derzeit findet selbst die renommierte Charité kaum Personal. Dabei zahlt die Universitätsklinik zwar nicht üppig, aber mehr als viele andere Häuser. Das kann nur bedeuten: Die zuletzt wachsenden Löhne müssen weiter steigen, damit mehr Schulabgänger die Pflegeberufe den oft besser bezahlten Bürojobs vorziehen. Vor allem aber brauchen Pflegekräfte andere Bedingungen: weniger Stress, weniger Überstunden, weniger Druck von oben, aber auch weniger Respektlosigkeit von unten, aus den Krankenbetten.

Von Politfunktionären auf Klinikkongressen bis zu leider verbreiteten Pöblern in Rettungsstellen: High-Tech und Doktortitel werden landläufig respektiert, Fürsorge und pflegerische Facharbeit allenfalls registriert.
Dabei rackern Krankenschwestern und Altenpfleger hierzulande so hart wie kaum irgendwo in der westlichen Welt: Auf einer deutschen Klinikstation kümmert sich eine Pflegekraft im Schnitt fast um 13 Patienten pro Schicht. Würden in Deutschland schwedische, australische, ja selbst US-amerikanische Standards gelten, müssten die Kliniken sofort zehntausende Schwestern und Pfleger zusätzlich einstellen – und die wären obendrein gesamtgesellschaftlich stärker anerkannt.

Krankenhausfinanzierung nach der Wahl kaum zu halten

Um die Lage zu bessern, wird die nächste Bundesregierung kaum vermeiden können, das System der Fallpauschalen zu ändern. Denn demnach erhält eine Klinik von den Krankenkassen pro Patient und Diagnose eine fixe Summe – es wird also nicht das bezahlt, was die Klinik am Ende tatsächlich brauchte, sondern was als Kosten im Schnitt für angemessen befunden wird. In den Kliniken werden die Patienten deshalb immer früher entlassen – was wiederum zum Stress auf den Stationen und zum schlechten Image der Pflege beiträgt.

Die Streikenden an der Charité haben das erkannt. Seit Jahren fordern sie nicht mehr Geld (wovon sie allerdings auch mehr gebrauchen könnten), sondern zusätzliche Kollegen. Das macht diesen Streit so politisch, ja zum Auftakt einer nationalen Auseinandersetzung. Und genau als das sollte der Pflegenotstand begriffen werden: als Aufforderung zu einem New Deal, einem Abkommen zwischen Kliniken, Heimen, Kassen, Berufsverbänden und der Politik. Eine gesellschaftliche Übereinkunft, massenhaft Fachkräfte auszubilden. Die neue Bundesregierung sollte die Pflege ins Zentrum der Legislatur stellen – sie würde das Leben von hunderttausenden Beschäftigten und Millionen Patienten erleichtern.

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