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Berlin: Charité: Tiefe Schnitte

Erstaunlich, wie ruhig die Stimme ist, die den Untergang ankündigt. "Dieser Pfeil", sagt die Stimme, "dieser Pfeil stellt die eigentliche Katastrophe dar.

Erstaunlich, wie ruhig die Stimme ist, die den Untergang ankündigt. "Dieser Pfeil", sagt die Stimme, "dieser Pfeil stellt die eigentliche Katastrophe dar." Der Mann, groß, graues Haar, grauer Schnurrbart, setzt die Spitze des Mont-Blanc-Federhalters an das Kästchen links auf dem A4-Blatt. Und dann zieht er eine gleichmäßige Linie zu einem Kästchen rechts auf dem Blatt. "Sehen Sie?", sagt er und legt den Stift auf seinen Schreibtisch. "Das ist die Katastrophe."

Eigentlich ist an diesem Ort von Katastrophenstimmung nicht das Geringste zu spüren. Wir befinden uns in Mitte, in Deutschlands berühmtem Universitätsklinikum, der Charité. Eine Riesenbaustelle. Wohin man sieht, liegt Sand, liegen Betonplatten, Ziegelsteine, stehen rostfarbene Container, in denen Handwerker hausen. Man könnte, hätte man das Blatt mit den Kästchen noch nicht gesehen, den Eindruck bekommen, an diesem Ort herrsche Aufbruchstimmung.

Doch am Rand von Manfred Dietels DIN A4-Blatt - er ist Direktor der Charité - stehen Zahlen. "90 Millionen" - so lautete einst der Sparzwang für die Hochschulmedizin Berlins, verteilt auf die Jahre 2003 bis 2005. Das war unter dem Diepgen-Senat. Jetzt, als sei diese Summe noch nicht Schock genug, ist von 145 Millionen die Rede. Betroffen ist davon nicht nur die Charité der Humboldt-Uni, sondern auch das Benjamin-Franklin-Klinikum der Freien Universität. Ganze Forschungszweige stehen vor dem Aus. "Arbeitsplätze sind in Gefahr", sagt Dietel und nimmt den Füller, um ein paar weitere Zahlen auf das Blatt zu kritzeln.

Der Staatszuschuss für Forschung und Lehre der Charité beträgt 320 Millionen. "220 Millionen braucht man für den Unterricht der 480 Studenten", sagt Dietel. Bleiben 100 Millionen für die Forschung. "100 Millionen" kritzelt Dietel in das Kästchen links auf dem Blatt. Von dort führt der Pfeil zu dem Kästchen rechts, in dem das Wort "Drittmittel" steht. Sie stammen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der EU, Investitionen diverser Stiftungen und der Industrie. 120 Millionen insgesamt, die für die Forschung zur Verfügung stehen. "Der Punkt ist, kürzt man den Staatszuschuss, dann gehen auch unsere Drittmittel dahin", sagt Dietel.

Die DFG, die Stiftungen, die Industrie: Sie machen ihre Millionen erst locker, wenn die Labors ihre Qualitäten unter Beweis gestellt haben. Genau dazu dienen die 100 Millionen Staatszuschuss allein für die Forschung. Sie helfen, den Grundstock eines Labors aufzubauen. Sind die Ergebnisse erfolgsversprechend, fließen die Drittmittel. "Die Staatskürzungen werden uns in eine dramatische Spirale nach unten ziehen, weil wir damit auch immer mehr Drittmittel verlieren", sagt Dietel. "Damit aber steht nichts anderes auf dem Spiel als die Biomedizin Berlins."

Ein paar Treppen hinauf, schon ist man in einer anderen Welt: in den Labors des Krebsforschers Reinhold Schäfer. Er ist einer der Wissenschaftler, deren Schicksal von dem Pfeil zwischen den beiden Kästchen abhängt. Eine Million Forschungsgelder bekommt er für einen Zeitraum von fünf Jahren aus dem Staatstopf. Auf einem Sequenziergerät für die Untersuchung von Genen haftet der Aufkleber: "Gefördert durch die Deutsche Krebshilfe." Schäfer untersucht Gene, die beim Entstehen von Tumoren eine Rolle spielen. Der Mann blickt durch ein Mikroskop, an das ein Monitor angeschlossen ist. Kostenpunkt: etwa 30 000 Mark. An einer "sterilen Werkbank" (Kostenpunkt: 20 000 bis 30 000 Mark) sitzt einer von Schäfers Doktoranden (50 000 Mark). "Ich füttere die Krebszellen, damit sie am Leben bleiben und wir sie untersuchen können", sagt der junge Mann im roten Pulli. Eine blonde Laborantin (70 000 bis 80 000 Mark) tritt in den Raum und steckt ein paar Petrischalen in den Brutschrank. "Der Schrank? 20 000 Mark", sagt Schäfer. "Ein japanisches Modell - für weniger bekommen Sie den wirklich nicht."

Eigentlich würde sich der Forscher ja lieber um die Krebsforschung kümmern. Doch immer mehr rückt an der Charité der Inhalt, die viel beschworene Biomedizin, in den Hintergrund. "Seit Jahren werden unsere Fakultätssitzungen von einem Thema dominiert: vom Sparen", sagt Schäfer. "Natürlich drückt das die Stimmung." Vor zwei Jahren sei einer seiner Kollegen ausgewandert. Nach New Castle, Groß-Britannien. Jetzt stehe seine beste Kollegin kurz davor, ihre Koffer zu packen. Bald habilitiert, brillant - "aber es gibt hier keine Stelle", sagt Schäfer. "Ich habe jetzt noch 19 Mitarbeiter", fügt er hinzu. "Durch die Sparmaßnahmen könnte ich die Hälfte davon verlieren."

Die schlechte Stimmung überträgt sich auf die Studenten. Anne Schmidt und Philipp Mergenthaler studieren im zweiten Semester des "Reformstudiengangs Medizin". Kleine Gruppen, Praxisorientierung, Fallbeispiele im Wochentakt - ein deutschlandweit einmaliges Projekt. Eine neue Art, Medizin zu studieren. "Über zehn Jahre hat man gebraucht, um dieses neue Studienkonzept auszutüfteln", sagt Schmidt. Und ihr Kommilitone Mergenthaler: "Natürlich bekommen wir den Sparkurs zu spüren und fragen uns: Was wird passieren?"

Und die Sandhaufen und die Bagger und die Betonplatten? Relikte einer Aufbruchsstimmung. Nach dem Fall der Mauer konnte die Charité mit westlichen Instituten nicht mithalten. Drittmittel waren in der DDR ein Fremdwort. Und dann gelang ihr buchstäblich der Start von Null auf Hundert: 1990 verfügte die Charité noch über keinen Pfennig Drittmittel, im Jahr 2000 bekam sie über 100 Millionen zusammen. Die Stimmung wirkte beflügelnd, "euphorisierend", sagt Dietel. Biotech-Unternehmen sprossen aus dem Boden. Vor drei Jahren wurden der Charité vom Parlament 800 Millionen Mark allein für die Sanierung der Bausubstanz versprochen. "Jetzt steht der Abschluss der Sanierung in den Sternen", sagt Dietel. Wie die Zukunft der biomedizinischen Forschung in Berlin.

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