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Berlin: Charlotte Faltermann (Geb. 1910)

"Die Lotte aus Berlin kommt!"

Als sie mit 86 Jahren ins Heim umziehen muss, sitzt sie in ihrem Rollstuhl im Flur des Heims. Ihre Hände zittern stark. Die Tochter sieht das und erschrickt. Charlotte fängt den Blick der Tochter auf, schaut auf ihre Hände – und hält sie ruhig. So etwas lässt sie sich nicht durchgehen. Aber immer ist sie nicht so diszipliniert gewesen.

Die Jahre des Ersten Weltkriegs verbringt Charlotte Loewenthal vor allem bei den Großeltern auf dem Dorf. Der Vater ist im Krieg, die Mutter arbeitet in der Munitionsfabrik. Die Nachbarskinder im Dorf freuen sich: „Die Lotte aus Berlin kommt!“ Denn Lotte ist zu wilden Spielen aufgelegt. „Strolch“ nennt sie ihr Vater.

Zurück in Berlin, wird „Strolch“ zu einer schönen Frau, burschikos und mit großem Lebenshunger. Das dunkle Haar, zum Bubikopf geschnitten, die tiefbraunen Augen wirken auf die Männer. Lotte zeltet mit ihnen, fährt Motorrad, übernachtet auf dem Segelboot. Oder sie gibt die Dame im schicken Kleid, die sich ins Tanzlokal ausführen lässt.

Charlotte ist auch Leichtathletin und spielt Handball. Im Sportverein lernt sie ihren zukünftigen Mann kennen. Die beiden geraten bald in Schwierigkeiten, denn Charlottes Vater ist Jude, sie gilt als „Halbjüdin“. Arno will sich nicht von ihr trennen – und verliert seine Arbeit bei Siemens. Auch Charlotte, Telefonistin bei der Preußischen Staatsbank, wird entlassen. Die beiden heiraten und ziehen zu Arnos Eltern nach Schönwalde bei Berlin. Dort können sie nahezu unbehelligt leben. Charlottes Familie geht es anders. Ihrem Vater gelingt 1938 die Flucht nach Südamerika, seine drei Geschwister werden ermordet.

Am Silvestertag 1941 setzen bei Charlotte die Wehen ein, es ist ihr zweites Kind. Arno geht los, um ein Auto zu holen. Charlotte hält vor dem Gartentor angstvoll nach ihm Ausschau, die Wehen werden stärker, sie wartet, so lange, bis die Tochter Ursula aus ihr heraus und direkt in den Schnee fällt. Erst dann kommt Arno, und sie fahren ins Krankenhaus. Dort herrscht Fliegeralarm, sie werden in den Keller geschafft, ohne das Baby, das oben versorgt wird.

Im Krieg und in der harten Zeit danach wird Charlotte zur Kämpferin. Sie bündelt ihre Lebensenergie nun in eine disziplinierte, auf das Notwendige gerichtete Kraft, sie wagt sich in die Lager der Russen, um mit ihnen Tauschhändel abzuschließen, sie hantiert mit gefrorenen Kartoffeln, bis sie Frostbeulen bekommt.

Ende 1949 verlässt die Familie die soeben gegründete DDR in Richtung West- Berlin. Die Kollegen des Vaters werfen an der Grenzbrücke ihre Mützen in die Luft: „Willkommen in der Freiheit!“ Die Freiheit genießt Charlotte mit gefasster, zuweilen unterkühlter Stimmung. Eine schwere Decke der Erinnerung und des Vergessenwollens liegt über ihrer Lebenslust.

Nach der Arbeit ruft Arno, der als Prokurist bei einem Transportunternehmen gut verdient, oft an: „Mach dich fein, wir gehen aus.“ Dann sitzen sie mit Freunden im Café, besuchen Konzerte oder Vorträge. Arno kauft ein Segelboot, die Familie verbringt viel freie Zeit im Segelclub. Für Charlotte nur eine Schwarzweißkopie des alten Lebens – aber immerhin. Wenn sie mit Arno unterwegs ist, werden die Kinder zu Hause von ihrer Tante versorgt. Zu Hause – das ist nicht Charlottes Welt. Pflanzen, Geschenke, Kinder trösten, für solche Dinge ist Arno zuständig.

1993 stirbt er. Eine Weile braucht Charlotte, um sich vom Verlust zu erholen, dann geht sie wieder ins Konzert, in den Segelverein oder Sushi-Essen mit den Enkelkindern. Kellnern, Garderobenfrauen und anderen, die es nötig haben, gibt sie großzügige Trinkgelder.

Es fällt ihr schwer, ins Heim zu ziehen, doch findet sie hier einiges vor, was eine Dame von Welt in ihrem Alter benötigt: eine „Bedienung“, wie sie die Pfleger nennt, und einen fahrbaren Thron: ihren Rollstuhl, den sie schieben lässt. Ihren Körper diszipliniert sie so erfolgreich, dass sie weiter an den Kaffeekränzchen und den sonntäglichen Frühschoppen im Verein teilnehmen kann wie in den fünfzig Jahren zuvor. Candida Splett

Candida Splett

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