zum Hauptinhalt

Berlin: Charlotte Schulz (Geb. 1911)

„Sie roter Teufel. Sie haben das Rennen gemacht!“

Sie war die Stimmungskanone auf Familienfesten, der bunte Vogel ihrer Straße. Charlotte genoss Freiheiten, um die andere sie beneideten. Sie besaß das Talent, Menschen für sich einzunehmen, sie einzuspannen in ihren Alltag, den sie alleine nicht bewältigt hätte. So lebte sie 100 Jahre, obwohl so klein und zart von Statur, und wenn die Wohnungsbaugesellschaft nicht gedroht hätte, ihr Refugium zu renovieren … Aber das ist nur Spekulation.

Charlotte klingelte auch nachts, wenn sie was brauchte. Sie streifte im seidenen Morgenmantel um die Häuser, tagsüber. Sie trug Bunt, am liebsten Gold- und Silberfarben und viele Ketten um den Hals. Sonst hätte man sie womöglich übersehen. Einmal, schon länger her, war sie mit ihrer Nichte bei einem Tanzvergnügen. Die Tanzfläche war noch leer, da nutzte sie die Gelegenheit. „Komm, wir geh’n mal quer über’n Saal, sonst sieht uns doch keener.“ Sie trug ein knallrotes Kleid. Später setzte sich ein kleiner Mann zu ihnen und erklärte: „Sie roter Teufel. Sie haben das Rennen gemacht!“

Das Mobiliar, das sie umgab, alterte mit ihr in Würde. In den Jugendstilschränken hatte schon ihre Mutter Wäsche und Geschirr aufbewahrt. An den Regalbrettern hingen kleine Stickereien zum Lob der Hausfrau. Die Mustertapeten, die Kachelöfen, der Kohleherd – in Charlotte und ihrer Wohnung lebte die Kaiserzeit fort. Als ihre Familie ins Nachbarhinterhaus einzog, zu fünft in zweieinhalb Zimmer, war das Haus gerade zum Trockenwohnen freigegeben. Später durften sie auf die Sonnenseite des Hinterhofs umziehen, weil ihr Vater immer pünktlich die Miete zahlte. Charlotte zog danach nie wieder um. Ihr Mietvertrag war nur zwei Jahre jünger als sie, von 1913. Der Mietzins betrug damals 384 Goldmark im Jahr und wuchs bis auf 179 Euro im Monat.

Charlotte war das dritte Kind eines Buchbinders, der Arbeit hatte, aber wenig Lohn. Ins Kino gehen, gleich um die Ecke, war nicht möglich. Arbeit fand sie beim Vater in der Werkstatt, und am Wochenende wurde getanzt mit den Nachbarsmännern. Einen davon, Schneider von Beruf, nahm sich Charlotte zum Verlobten. Doch die gemeinsame Zukunft fiel den Nazis zum Opfer. Der Verlobte war Jude. Charlottes Vater, Kommunist, wollte seine Familie nicht zweifach der Gefahr aussetzen. Und Charlotte? Sie fügte sich, löste die Verlobung und verheimlichte, dass sie schwanger war. Kurz vor Kriegsbeginn reiste sie nach Prag zur Schwester ihres Ex-Verlobten. Die kannte einen Arzt, der Abtreibungen vornahm. Charlotte wurde denunziert: Intime Beziehungen zu Juden waren verboten. Sie musste aufs Polizeipräsidium zum Verhör. Dort ließ sie ihren Charme spielen, flirtete ein wenig mit dem Beamten, Kommissar Hering, und durfte wieder gehen.

Der Ex-Verlobte, er hieß Eugen, kam nach Auschwitz, aber weil er den Ehefrauen der SS-Männer schöne Kleider schneiderte, ließen sie ihn leben. Zwischen ihm und Charlotte war es trotz der gelösten Beziehung nicht zum Bruch gekommen. Aber mehr als Freundschaft war nach dem Krieg nicht übrig.

Charlotte lernte andere Männer kennen, aber eine Familie zu gründen, traute sie sich nicht mehr zu. Sie wurde krank, ein Nervenleiden, und bekam eine Invalidenrente zugesprochen, von der sie bescheiden leben konnte. So wurde aus Charlotte „Tante Lotte“, der die Familie das Etikett „Lebenskünstlerin“ verpasste. Sie übernahm nicht gerne Verantwortung, richtete keine Feiern aus, nahm aber Einladungen gerne an. Schließlich machte sie sich gerne hübsch, tanzte und erzählte. Am festlich geschmückten Tisch wurde sie zum Entertainer.

Auf der Straße begegnete man ihr zuweilen mit dem vagen Gefühl, sie schon mal gesehen zu haben. Wohl wegen eines Kleides: Sie bekam von einem Nachbarn immer mal ausrangierte Sachen aus einem Theaterfundus geschenkt.

Sie klebte Abziehbildchen auf Tassen und Schüsseln, die Decke ihrer Küche wurde mit einer farbenfrohen Blumentapete versehen, die Wand ließ sie schweinchenrosa streichen. Von weiteren Veränderungen nahm sie Abstand. Sie aß gerne Kuchen, Kekse, Lachs und Pralinen, machte sich mal eine Tütensuppe warm. Kochen war ihr zu mühsam. Eigentlich brauchte sie nicht viel zum Leben.

Von größeren Reisen ist nichts bekannt. Charlotte las Romane, wenn sie wissen wollte, was auf dem Globus sonst noch so passiert.

Beim Fernsehen hatte sie Kopfhörer auf, damit beim Lauterdrehen die Nachbarn nicht aus dem Bett fielen. Wer dann bei ihr klopfte, hatte Pech. Kurt, ihr bester Freund im Haus, ließ mal die Feuerwehr rufen, um die Tür aufzubrechen. Hätte ja was passiert sein können. Lange wäre es aber nicht mehr gut gegangen mit Charlotte, so allein in ihrer Wohnung. „Ins Heim? Dann will ich lieber tot sein.“ Thomas Loy

Zur Startseite