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Berlin: Christa Saß (Geb. 1925)

Besonders elektrische Gitarren waren ihr ein Gräuel

In den siebziger und achtziger Jahren war das „Quartier Latin“ in der Potsdamer Straße 96 eine Institution: eine Mischung aus kleiner Kneipe und großem Jazz-, Blues- und Rockschuppen. Ein Familienbetrieb, der so viel Arbeitseinsatz forderte, dass für ein Familienleben nebenher keine Zeit mehr blieb.

Man kann sagen, dass Christa und Manfred Saß eher mit dem Laden verheiratet waren als miteinander. Während Manfred hinter seinem Tresen stand, Bier zapfte, Schnäpse ausschenkte, mit den Gästen palaverte, paffte und soff, saß Christa hinter einem Tischchen am Eingang mit einer eisernen Geldkassette und kassierte den Eintritt. Sie sah sehr anders aus als die Konzertgänger, denen sie das Geld abnahm: eine kleine, ältere Frau mit damenhaftem Rock und Seidenschal. Stammgäste wurden klassisch berlinisch begrüßt: „Na, mein Kleener, kommste ooch ma’ wieder vorbei? Wie jeht dit dir?“

Studenten, Kiffern, Trinkern, Künstlern, Freaks, allen begegnete sie mit großer Offenheit und Toleranz, auch wenn sie mit deren musikalischen Vorlieben wenig anfangen konnte. Besonders elektrische Gitarren waren ihr ein Gräuel. Trotzdem fand sie, dass die armen Musiker, auch die mit den elektrischen Gitarren, was Anständiges essen sollten: Sie hatte sich einen kleinen Herd hinterm Tresen eingerichtet und bekochte auch die wildesten Krachmacher vor ihren Auftritten.

Ihre Arbeit erledigte Christa mit akribischer Gewissenhaftigkeit. Sie hatte viele Systeme, sehr eigene Systeme: die Kasse, die Versorgung der Musiker, das Einsammeln der Bierflaschen im großen Saal, das Fegen, das Wischen, das Putzen, die Finanzen. Wehe, es funkte ihr jemand dazwischen, dann konnte sie sehr zornig werden.

Als etwa ein Roadie einer Band, ohne zu fragen, einen Besenstiel aus einer Kammer holte – was für eine Dreistigkeit! Der konnte sich was anhören.

Über andere Grenzüberschreitungen konnte sie sich köstlich amüsieren. Da kam doch mal ein Band-Manager, stellte einen kleinen Koffer auf ihren Kassentisch und meinte: „Der Koffer ist leer. Der Eintritt kostet 13 Mark. Es kommen 1000 Leute!“ Er komme später wieder und würde den Koffer mit 13 000 Mark dann abholen. Das fand Christa zu lustig. Die Konzertgeschäfte liefen ja nicht so toll. Eigentlich waren sie ständig in Geldnöten. Die Story vom Manager mit dem Geldkoffer hat sie immer wieder gern erzählt.

Über sich selbst hat sie allerdings kaum gesprochen. Wann denn auch? Sie hatte ja nie Zeit. Kaum jemand wusste was über Christas Vergangenheit. Aus Neukölln kam sie, eine Ausbildung hatte sie wohl noch während des Krieges abgeschlossen, vielleicht sogar ein Studium. Aber schon da gehen die Erinnerungen auseinander: War sie danach Krankengymnastin oder Gymnastiklehrerin? Dass ihr Vater eine Molkerei hatte, ließ sich später anhand ihrer Geburtsurkunde rekonstruieren. In Berliner Adressbüchern fand sich der Vater bis 1937 als Molkereibesitzer unter drei verschiedenen Adressen. In Neukölln und von 1932 bis 1937 auch in Lankwitz.

Irgendwann, hieß es, sei Christa nach Heide in Holstein gegangen und habe dort in einer Kneipe gearbeitet. Da muss sie schon Mitte dreißig gewesen sein. Der 16 Jahre jüngere Manfred Saß sei dort aufgekreuzt und habe nach einer Weile einen großen Zettel mit gewaltigen Zechschulden gehabt. Es erschien ihm dann irgendwann günstiger, die Frau hinterm Tresen zu heiraten, als den Zettel bezahlen zu müssen, so erzählte er es Jahrzehnte später. Hahaha, breites norddeutsches Seemannsgrinsen.

1964 haben sie geheiratet, 1965 kam ihr Sohn Marco zur Welt. In Hamburg hatten sie eine Eckkneipe. Da trafen sie eine Vereinbarung: Weil Christa immer Heimweh hatte nach Berlin, würden sie nach zehn Jahren dorthin ziehen. Und weil der durch und durch norddeutsche Manfred lieber in Hamburg war, würden sie nach weiteren zehn Jahren wieder dorthin zurückgehen.

„Ach, du weißt doch, wie das ist: die Frauen! Da kommst du nicht gegen an“, sagte Manfred später. Das Seemannsgrinsen wirkte dabei ein wenig resigniert. Seit 1972 sind sie in Berlin geblieben, für den Rest ihres Lebens.

Am Anfang war da auch wieder eine von Mannes Zettelgeschichten. Auf der Suche nach einer Kneipe fand er das „Quartier Latin“, das von Studenten betrieben wurde. Denen wuchs alles über den Kopf, sie wollten den Laden loswerden. Manfred gefiel der Schuppen, der gerade gut lief: Der Blues-Pianist Champion Jack Dupree hatte ein mehrtägiges Gastspiel. Manfred war jeden Abend dort, machte einen dicken Schuldenzettel und schließlich das Angebot, die Kneipe mit Konzertsaal zu übernehmen, wenn man ihm dafür den Zettel erließe. Und das hat tatsächlich geklappt, hahaha. Christa wurde nicht groß nach ihrer Meinung gefragt. Sie machte mit, Hauptsache sie war wieder in Berlin.

Marco, den Sohn, der seine Eltern Manfred und Christa nannte, sah man gelegentlich am Tresen bei seinen Schularbeiten. Familienunternehmungen außerhalb des Ladens gab es nicht. Keine Urlaube, Ausflüge, Zoo- oder Rummelbesuche. Das „Quartier Latin“ war Rummel genug. Nach dem Abitur, das er erstaunlich gut hinbekommen hatte, wurde auch Marco fester Bestandteil des Familienbetriebes. Er zapfte Bier und fotografierte die Bands. Ratschläge fürs Leben bekam er nicht von Christa oder Manfred, sondern von den Kneipengästen. Sein Vater war der charmante Hallodri, der mit den Gästen soff und zockte, der auf der Trabrennbahn Wettsysteme erprobte, grundsätzlich erfolglos, und der gelegentlich kleine Affären unterhielt. Christa, die Mutter, war für die Disziplin zuständig, sie versuchte, die Finanzen zusammen- und den Gerichtsvollzieher fernzuhalten. Wenn Manfred nachts noch hinter der Theke stand, schlief sie, tagsüber putzte sie und räumte den Konzertsaal auf. Und während Manfred der nächsten Nachtschicht entgegenschlief, spazierte sie drei Stunden lang mit den beiden Schäferhunden Tosca und Zack durch den Tiergarten.

Vielleicht hatte Christa einmal andere Vorstellungen vom Leben gehabt, vielleicht wäre sie gerne eine Dame in gutbürgerlichen Verhältnissen gewesen, vielleicht auch etwas noch viel Feineres. Ein Fingerzeig: ihre herrschaftliche altberliner Wohnung gegenüber vom „Quartier“, die sie mit Unmengen edler Antiquitäten eingerichtet hatte. Der Schein trog, die Schulden wuchsen, das Finanzamt forderte eine horrende Nachzahlung, Renovierungen und Umbauten waren dringend nötig. Dann erhöhte ein neuer Hauseigentümer die Miete um 150 Prozent, und nach der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 gingen Besucherzahlen und Einnahmen dramatisch zurück. Am 29. Dezember 1989 schloss das „Quartier Latin“ nach 17 Jahren, und das Ehepaar Saß stand wieder vor dem Nichts.

1991 versuchten sie es als Pächter vom „Riverboat“ am Fehrbelliner Platz. Aber dessen bessere Zeiten waren längst vorbei und sie gingen nach zwei Jahren pleite. Mit einer Eckkneipe in der Neuköllner Weserstraße hatten sie auch kein Glück. Erst die kleine Kiezkneipe in der Schöneberger Ebersstraße lief etwas besser. Wenn es auch ein bisschen tragisch anmutete, die Saß’ aus dem großen „Quartier Latin“ nun in den kleinen dunklen Räumen des „Quartier Latent“ zu erleben. Christa stand tagsüber hinterm Tresen, wenn die Fahrer der Taxibude von nebenan auf einen Kaffee vorbeischauten. Abends zapfte Manne Bier.

Nach seinem Tod 1995 wurde Christa zur Alleinherrscherin und lebte noch einmal richtig auf, weil nun wirklich alles nach ihren Systemen lief. Kneipe und Leben in Eigenregie, wenn auch längst nicht so herrschaftlich, wie sie es sich erträumt haben mochte. Sie wohnte in der Ebersstraße ohne Bad und Heizung, die Toilette eine halbe Treppe tiefer. Die Möbel aus der alten Wohnung hatte sie in die Hinterzimmer der Kneipe gestopft.

Das „Quartier Latent“ wurde zum Treffpunkt der Nachbarschaft um den S-Bahnhof Schöneberg. Die Leute schütteten bei Christa ihr Herz aus, sie versuchte zu helfen, wo sie konnte. Viele Kontakte blieben bestehen, nachdem sie die Kneipe aufgab. Mit großem Spaß half sie in der Werkstatt ihres Ex-Stammgastes Wolfgang, der alte Leuchten restaurierte und alle möglichen Dinge flohmarkttauglich machte. Als Dank für ihre Hilfe besorgten ihr Freunde im Winter Brennholz und trugen es die Treppen hoch. Ihren Ofen heizte sie trotzdem nur selten. Irgendwann wunderte sich ein Nachbar, warum schon so lange der Müll vor Christas Wohnungstür stand. Da war sie seit ein paar Tagen tot.

Im ehemaligen „Quartier Latin“ residiert seit Jahren das Varieté-Unternehmen „Wintergarten“, im „Quartier Latent“ ist jetzt ein Kinderladen. H. P. Daniels

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