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Berlin: Christiane Saur (Geb. 1958)

„Gibt es hier WLan?“, fragte sie, als sie ins Hospiz kam

Sie machte gerade ihre ersten Schritte, da wurde sie von einer aufspringenden Tür zu Fall gebracht. Es wäre nicht weiter schlimm gewesen, hätte dort nicht ein Trog mit kochend heißem Wasser gestanden. Sie stürzte hinein und verbrannte sich schwer. Schicksalsschlag, Unfall, schweres Unglück? Ihre Mutter war Krankenschwester und blieb im Krankenhaus lange an ihrer Seite.

Die Brandwunden vernarbten. Kaum jemand bemerkte sie später. Christiane, die alle nur Jane nannten, strahlte mit jedem Lebensjahr frecher über sie hinweg. Da tanzte das Schicksal wieder aus der Reihe. Sie fühlte sich abgeschlagen und war sonnenempfindlich. Nach etlichen Untersuchungen wussten die Ärzte, warum: Lupus erythematodes, eine seltene Autoimmunerkrankung. Sie war gerade 20 Jahre alt.

Ein Leben mit vielen Medikamenten und ständigen Blutkontrollen. Jane hatte Respekt vor dem Eigensinn ihres Körpers, aber keine Angst. Sie vertraute ihrem Kopf und ihren Instinkten. Und sie war stark: Die Krankheit sollte nicht ihr Leben diktieren. Sie lebte mit ihr, ohne viel Aufhebens zu machen. Vor allem wollte sie nicht bemitleidet werden.

Von Heidenheim zog sie nach Berlin, zusammen mit dem Jugendfreund. Die Stadt war groß, bald ging jeder seiner Wege. Um sich das Studium zu finanzieren, fuhr sie Taxi. Sie trat aufs Gaspedal, und die Kollegen guckten ihr staunend hinterher. In einen verliebte sie sich. An eigene Kinder war nicht zu denken, zu groß das Risiko einer Komplikation. Umso mehr bedeuteten ihr ihre zwei französischen Hirtenhunde, die ihr zudem reichlich Bewegung verschafften – zum Schutz gegen Thrombosen. Brummi, die Tochter der ersten Hündin, hatte die gleichen flinken und dunklen Augen wie Jane.

Täglich organisierte sie nicht nur ihr eigenes Leben, sondern brachte das von anderen auch noch in Ordnung, oft genug zum allerersten Mal. Als Familien-, Schuldner-, und Mieterberaterin war ihr kein menschlicher Abgrund fremd. Wenn einer ihrer engagierten Rettungsversuche mal scheiterte, dann nur, weil sie noch nicht „den optimalen Lösungsweg“ gefunden habe – so sagte sie das. Sie war keine halbherzige Zweckoptimistin, sondern eine engagierte Sozialarbeiterin, die ihren Job sehr mochte und ernst nahm. Ihr unstillbares Interesse an Lebensgeschichten, ihre Kenntnisse und ihre Fähigkeit zur Empathie retteten manchem die Existenz. War sie einmal niedergeschlagen oder traurig, ging sie Salsa tanzen oder segelte sich frei.

Verletzungsrisiken wog sie genau ab, ohne ihren Bewegungs- und Aktionsradius übermäßig einzuschränken. Sie kannte ihre Krankheit, manchmal besser als die Ärzte. Als einer ihr ein Untersuchungsergebnis mitteilte, erwiderte sie nur: „Kann nicht sein! Die Werte stimmen nicht!“ Es stellte sich heraus, dass der Test im Labor vertauscht worden war. Fünfzehn Jahre nahm sie keine Medikamente. Als neue Krankheitsschübe einsetzten und sie ins Krankenhaus musste, schickte sie eine SMS unter den Freunden herum: „Ich bin dann mal weg!“ Es war ein Gruß, keine Verabschiedung.

Zu Ostern 2007 musste sie sich einem weiteren Test unterziehen. Dieses Mal waren es die Ärzte, die am Befund zweifelten: „Sie sehen so frisch aus!“ Denn die Diagnose war vernichtend: Zungengrundkrebs, Metastasen im ganzen Körper.

Ihren Optimismus gab sie dennoch nicht auf. Das riesige soziale Netz, das sie sich aufgebaut hatte, erwies sich als perfekt gepflegter Lebensbaum. Ihre Kräfte schwanden, aber die Wurzeln der Freundschaften hielten sie fest. Wie um zu beweisen, dass sie bald in den Urlaub fahren würde, bestellte sie sich einen nagelneuen Fiat 500. Am Tag, als sie in das Hospiz ging, wurde er ausgeliefert.

„Gibt es hier WLan?“, fragte sie dort als Erstes, besorgt um die Aufrechterhaltung ihrer Kontakte. Das hatte noch niemand gefragt. Man fand eine Lösung, aber ihren Laptop konnte sie dann doch nicht mehr benutzen. Sie starb ohne Schmerzen. In ihrer Todesanzeige stand der alte Gruß: „Ich bin dann mal weg!“Stephan Reisner

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