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Berlin: Clemens Berger (Geb. 1956)

„In der zweiten Hälfte habe ich nur noch von einer Currywurst geträumt.“

Die Tür zum Klassenzimmer der 10b geht auf. Herein tritt Herr Berger. Er zieht eine Fresse. Heute hat er schlechte Laune, und jeder kann es sehen. Die Schüler huschen an ihre Plätze. Herr Berger breitet Bücher und Unterrichtsmaterialien in Klarsichthüllen vor sich aus. Ein Mädchen redet mit seiner Freundin. Herr Berger schaut über den Rand seiner Brille: „An-ge- li-na. Schön die Schnauz’ halten jetzt.“ Dann hört Herr Berger das Geräusch von Zähnen und Speichel an Kaugum- mi. Er zeigt auf den Kauenden, dann auf den Abfalleimer. Der Junge versteht. Der Junge entsorgt.

„Manchmal kotzt mich einiges so richtig an“, sagt Herr Berger, und die Klasse fühlt mit. Aber man weiß: Schon beim Abfragen der Lateinvokabeln wird sich seine Laune bessern. Beim Cäsar wird er bereits Späße machen, und wenn er am Ende der Stunde ein Spottgedicht von Ovid präsentiert, werden seine Augen leuchten.

Clemens Berger wollte schon Lehrer werden, als er 17 war. Sein Vater, ein angesehener Mediziner, wollte einen angesehenen Mediziner zum Sohn. Keinesfalls einen Lehrer. Der Streit über die Berufswahl entfremdete die beiden. Erst kurz vor dem Tod des Vaters näherten sie sich wieder an.

Clemens Berger studiert Latein und Geschichte, um Lehrer zu werden. Nach dem Studium aber schlägt er einen Haken, zieht von Berlin nach Bonn und macht eine Marketing-Ausbildung. Er arbeitet für eine Werbeagentur, die wiederum für die CDU arbeitet. Das stört ihn, er wechselt zur Aachen-Münchener Versicherung und von dort zur Post. Aus Widerwillen gegen seinen Chef kündigt er dort und wird mit 44 Jahren Lehrer. Und zwar dort, wo er früher Schüler war: am Kant-Gymnasium in Spandau. Er bezieht eine Wohnung, die seine Freunde als ziemlich groß bezeichnen. Clemens Berger findet sie zu klein. Dabei gibt es in den vier Zimmern nur ihn und tausende von Büchern.

Er mag Bücher und Wandern und Fußball. Außerdem debattiert er gerne mit Freunden über Politik und Geschichte. Dafür radelt er freitags von Spandau nach Moabit in die Kneipe „Ambar“. Feuerwehrmann Michael und Achim, der im Bundestag arbeitet, bilden mit ihm die „Philosophenrunde“. Nach einigen Bieren beginnt das Asterix- und-Obelix-Spiel. Einer bringt ein Zitat, ein anderer nennt Band und Kontext. Bei „Die Ga-Ga- Ga …“ ufern die Quellenangaben ein wenig aus.

Achim kennt Clemens seit 14 Jahren. „Der war früher ein harter Hund“, sagt er. „Er ist durch den Lehrerberuf weicher und verständnisvoller geworden.“ Den harten Hund können sich die Schüler der 10b gar nicht vorstellen. Für sie ist Herr Berger ein Lehrer, wie man ihn sich nur wünschen kann, einer, der sich nicht nur für jeden Zeit nimmt, sondern auch nach der gemeinsam besuchten Aufführung von „Romeo und Julia“ sagt: „Die ganze zweite Hälfte habe ich von einer Currywurst geträumt.“

Er verbirgt seine Gefühle nicht, umgekehrt kann man Gefühle schlecht vor ihm verbergen. Einmal gibt es eine kleine Gruppe, die sich absondert, und den Rest der Klasse wie Dreck behandelt. Herr Berger lässt den Cäsar Cäsar sein und nutzt drei Schulstunden für klärende Gespräche. Tränen fließen. Als die Gemeinschaft wieder hergestellt ist, wird weiter übersetzt.

Unter Kollegen gilt er als der bestorganisierte Lehrer, einer, der auch nach Jahren noch viel Zeit in die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts steckt. Der Schulsprecherin der 10b rät er eindringlich – und so, als müsse er sich selbst den Rat geben: „Lade dir nicht zu viel auf. Das kann ein Sog werden, für alles zuständig zu sein. Das macht dich kaputt.“

Clemens Berger stirbt am 13. April beim Joggen. Als Todesursache wird eine Herzmuskelentzündung vermutet. Beerdigt wird er auf Fehmarn, dem Alterssitz seiner Mutter, die er oft besucht hat. Einige Schüler sind aus Berlin angereist.

In der 10b wird viel über ihn gesprochen. Die Klasse vermisst ihn. Eine Schülerin erinnert sich, was er ihr mal auf die Frage nach seinem Glauben geantwortet hat: „Ich glaube, dass es einen Gott gibt, und dass der Glaube an ihn ein erfülltes Leben schenken kann. Aber für mich ist das nichts.“ Anselm Neft

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