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Live vorm Balkon: Bewohner von Seniorenheimen leiden in der Pandemie besonders unter Einsamkeit.

©  Jens Büttner/dpa

Corona-Konzerte in Berlin: Fenster auf, Lockdown vergessen

Diese Künstler bringen Livemusik vor die Wohnungen der Berliner. Auf diese Weise können diese Kultur genießen – pandemiekonform.

Irgendwo im dritten Stock hört man ein Kind sagen: „Guck mal, da steht jemand im Hof.“ Gemeint ist Teres Bergman. Die neuseeländische Sängerin und Songschreiberin steht im Innenhof eines Wohnhauses in der Marienburger Straße in Prenzlauer Berg und baut ihr Mikrofon auf.

Wenig später beginnt Bergmans erstes Lockdown-Konzert. Immer mehr Menschen sammeln sich auf den Balkonen und an den Fenstern, um der Neuseeländerin und ihrem stilistischen Mix aus Indie-Pop und Soul zuzuhören. Hier in Prenzlauer Berg sind es vor allem Familien. Nach jedem Lied wird der Applaus lauter.

Auch auf den Balkonen des Nachbarhauses sind jetzt Silhouetten auszumachen. Nachbarn aus unterschiedlichen Etagen winken sich zu, im ersten Stock wippt eine Mutter ihr Baby im Arm zum Takt der Musik. Die Sängerin unten freut sich derweil, endlich wieder vor echtem Publikum spielen zu können. „Die Musikbranche ist schließlich nicht erst seit Mitte Dezember im Lockdown, sondern seit mittlerweile acht Monaten“, sagt die Künstlerin.

Als sich Bergmans Hofkonzert nach einer halben Stunde dem Ende neigt, fragt sie, ob ein letzter Song eher lauter oder leiser werden soll. Die Antwort ist eindeutig. „Laut!“, heißt es aus allen Richtungen, von einem Balkon hört man sogar den Ruf: „Wir brauchen Stimmung!“ Bergmann könnte die ganze Nacht weiterspielen, viele hier hätten vermutlich nichts dagegen.

Die Berlinerinnen und Berliner, so scheint es hier, sind hungrig nach Kultur – und bekommen sie an diesem Abend pandemiekonform serviert. Nach dem Auftritt hört man plötzlich eine Stimme aus dem Dunkeln. Im Nachbarhof steht jemand: „Ihr seid im falschen Hof gelandet, aber wir haben es durch das Fenster gehört. Nächste Woche bitte bei uns.“

Fenster auf für die Kultur

Hinter dem Open-Air-Konzert von Teresa Bergman steht die Initiative „Fenster auf“. Begonnen hat sie mit Auftritten im November im nordrhein-westfälischen Bochum, mittlerweile organisiert sie auch Aktionen in der Hauptstadt. Die Idee ist simpel: Finanziert aus Spendeneinnahmen und einem Kulturfonds der GLS-Bank werden Musik, Gesang, aber auch Lesungen und Schauspiel geboten. In Bochum standen auch schon Poetry Slam und Stand-up-Comedy auf dem Programm, erzählt Marlena Kreßin, eine der Organisatorinnen des Projekts.

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Das besonders Gute: Alle Beteiligten werden bezahlt. Die auftretenden Künstler und Künstlerinnen erhalten eine feste Gage, ebenso können Techniker und das Organisationsteam mit einer finanziellen Entschädigung rechnen. Jeden Donnerstag steuert „Fenster auf“ neue Hinterhöfe in Berlin an. Auf Veranstaltungen auf dem Bürgersteig muss vorerst verzichtet werden, um größere Menschenansammlungen zu vermeiden. Im Vorfeld werden die Konzerte mit den jeweiligen Hausverwaltungen abgesprochen, die Mieter durch Aushänge über die anstehenden Darbietungen informiert.

Unsichtbares Publikum: „Die hört man nur klatschen“

Auch im Seniorenzentrum „Bethel“ in Köpenick ist man kurz vor Weihnachten vorbereitet. Bewohner und Bewohnerinnen des Altersheims sitzen in den unteren Etagen der Einrichtungen an ihren Fenstern, Pflegekräfte bringen Wolldecken, um die Senioren zuzudecken. Ähnlich wie die Bochumer Initiative von Marlena Kreßin bringt auch der Entertainer Michael Ehrenteit Kultur an die Fenster von Berlinern und Berlinerinnen in seinem Heimatbezirk Treptow-Köpenick.

Nur seine Zielgruppe ist eine andere. Während in Prenzlauer Berg vor allem Familien der Hofmusik lauschten, ist das Publikum in Köpenick deutlich über 70 Jahre alt. An den oberen Etagen des Altersheims sind keine Bewohner zu sehen: „Die sind alle bettlägerig, die hört man dann nur klatschen“, sagt Ehrenteit und gibt seinen Künstlern das Zeichen, zu beginnen.

Das spanische Weihnachtslied „Feliz Navidad“ erklingt im Innenhof des Seniorenzentrums, interpretiert von drei Tenören, die in normaleren Zeiten auf der Bühne der deutschen Staatsoper stehen. Finanziert werden Ehrenteits Konzerte durch Spenden, fast zwanzig dieser Veranstaltungen hat der Moderator seit November durchgeführt. Die Idee dazu kam ihm bereits im ersten Lockdown im Frühjahr.

Selbst die Polizei hört zu

„Kultur war noch nie so wichtig wie in diesen Zeiten“, sagt Ehrenteit und beschreibt ein Dilemma, das ihn seit Beginn seiner kostenlosen Konzertreihe im Südosten Berlins verfolgt. Er müsse stets aufpassen, mit den Auftritten so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen, schließlich wolle man pandemiebedingt eng beieinanderstehende Menschengruppen im Publikum vermeiden.

Gleichzeitig freue sich natürlich jeder Künstler über ein großes Publikum, sagt der Moderator und erzählt von seinem Konzert am Tag zuvor. In einem Wohngebiet am Baumschulenweg hätten Hunderte Menschen auf Balkonen und an Fenstern den drei Tenören gelauscht, als plötzlich die Polizei mit mehreren Einsatzwagen anrückte. Eine Anruferin hätte sich über eine „illegale Corona-Party“ beschwert, erklärte ein Beamter. Doch die Einsatzkräfte konnten keine Verstöße gegen die Covid-19-Verordnung feststellen, stattdessen hätten sie sich rauchend an ihre Autos gelehnt und dem fortgeführten Hofkonzert der Tenöre gelauscht.

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Auch für die Bewohnerinnen und Bewohner des Seniorenzentrums „Bethel“ ist der Gesang eine willkommene Abwechslung. Sie leiden besonders unter den strengen Einschränkungen von Besuchen in Pflegeeinrichtungen. Noch ein bisschen mehr freut sich Ehrenteit aber auf das Konzert direkt im Anschluss vor einem Obdachlosenheim: „Das wird bei den Wohnungslosen bestimmt noch etwas stimmungsvoller als hier.“

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