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Berlin: Dagmar Stenschke (Geb. 1947)

„Sunshine“ nannte man sie. Aber sie hatte kein sonniges Gemüt

Ihre Beerdigung eine Reise in die Vergangenheit. Neben dem Sarg steht ihr Barhocker aus der „O-Bar“, einem längst verschwundenen Treffpunkt der schwul- lesbischen Szene auf der Kreuzberger Oranienstraße. Ein Relikt aus der Zeit, als Dagmar, die alle nur „Sunshine“ nannten, das Mobiliar und die Gäste mit ihren langen Beinen traktierte, getrieben von innerer Unruhe und Aggression. Die „Queen of Kreuzberg“ hatte kein sonniges Gemüt, ihr Name bezog sich auf ihr Lieblings-LSD, das sie wie auch die anderen Drogen zum Wrack und zur lokalen Berühmtheit werden ließ.

Eine Ikone der Selbstzerstörung, zahnlos, ausgemergelt – aber schön. Oft in schwarz, behängt mit Kruzifixen, Glöckchen an den Knöcheln. Die Punks nannten sie spöttisch „Jingler“. Den langen Pony wie einen Schutzvorhang gegen die Außenwelt immer im Gesicht, mit sich selbst sprechend, obszöne Beschimpfungen herausstoßend. Sie provozierte und demaskierte ihre Umwelt gnadenlos, erfuhr aber auch in ausgesuchten Milieus Respekt und Unterstützung. Touristen und vermeintliche Spießer waren ihre Feinde. Ihnen klaute sie in den Kneipen Zigaretten, Joints und Drinks, die sie zu einem irrwitzigen Cocktail zusammenschüttete und auf Ex trank.

Ihr Lebensweg war ein Trip, ein Fragmentbaukasten der Erinnerung, dessen Puzzleteile vor allem dann schillernd tanzten, wenn sie im Rausch war. Ganz für sich, bekifft, betrunken, genießt sie die Flashbacks: Alles war doch mal schön gewesen. Die Kindheit im Vorort von Hamburg, die Natur vor der Haustür. Weggeblendet der trinkende, autoritäre Vater, der ungeliebte, spießige Bruder, eingeblendet die Mutter, die ein engelsgleiches Portrait von ihr gemalt und sie zeitlebens unterstützt hat.

Erste Fluchten schon mit zwölf, schnell wird sie aufgegriffen und zurückgebracht. Nach einer Ausbildung zur Frisöse der endgültige Bruch. Sie trampt Jahre durch Europa, vor allem Frankreich und Spanien. Liebt Marseille und die Hippie-Insel Ibiza, wo sie „Sunshine“ in rauen Mengen einwirft. Arbeitet als Mannequin, Schmuckverkäuferin und in Grauzonen, aus denen sie hochschwanger ins spanische Gefängnis gelangt. Der erste Sohn bleibt im Kloster, der andere wird von ihrem Bruder aufgezogen.

1976 dann West-Berlin, Orte wie das „Risiko“ oder die „Ruine“, endlose Abstürze inklusive. Die Oranienstraße in Kreuzberg wird ihr Laufsteg, eine Diva inszeniert ihr tägliches Untergehen. 1990 ist es so weit: Magenblutungen, Notaufnahme, eine Blutkonserve, die sie mit Hepatitis C infiziert. Danach Zwangsentzug in der Psychiatrie. Viele halten sie für tot. Mahide und Loes aus der „O-Bar“ finden sie in der Suchtstation, hilf- und willenlos, werden nun zu ihren Beschützerinnen, Mahides Künstleragentur „Ahoi“ wird Ersatzfamilie und Arbeitgeber. Dagmar findet in ein Leben zurück, das einsam ist. Trotz der Arbeit als Garderobiere und Backstage-Kraft, trotz ihrer schönen Perserkatze „Muschi“.

Arztbesuche ersetzen Barbesuche, sie will oft einfach nur reden. Die Medikamente, die sie verschrieben bekommt, wirft sie in alter Gewohnheit zusammen und trinkt sie auf Ex. Sie sucht Kontakte bei der Diakonie und in Suppenküchen, entdeckt ihre soziale Ader und schiebt Rollstühle.

Die versuchte Kontaktaufnahme zu ihren Söhnen bleibt fruchtlos, eine bittere Enttäuschung. Dass sie andere enttäuscht hat, wird ihr erst am Ende klar. Im März die Krebsdiagnose, die Freundinnen helfen, wo sie können. Im Rollstuhl fährt sie zu Orgelkonzerten, sitzt stumm und verloren in Kirchenschiffen. Dann die Gespräche mit den Priestern, sie erwartet keine Absolution.

Die händeringende Suche nach einem Hospiz, wo sie kiffen kann. Als Mahide die Umzugskartons packt, wird Dagmar nervös, steht auf, fällt, steht wieder auf. Aber es gibt keine Flucht mehr. Ihren Grabstein, eine alte Tür, hat sie selbst bunt angemalt. Mit einer Sonne. Erik Steffen

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