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Berlin: Dampferfahrten fürs Wahlvolk

Im Jahr kommen 70000 Bürger, um Berliner Politik hautnah zu erleben – die Bundesregierung zahlt

„60 Gruppen in einer einzigen Woche in der Stadt – wissen Sie, was das bedeutet?“ Nö. „Na“, sagt Ministerialrat Joachim Böttcher und guckt bedeutend, „60 mal 50 Leute, das sind 3000! Dreitausend an Politik interessierte, wissbegierige und erlebnishungrige Menschen, die mit großen Erwartungen aus den entlegensten Winkeln des Landes in die Hauptstadt kommen. Und wir sorgen dafür, dass sie nach ein paar Tagen um neue Einsichten und Erkenntnisse reicher wieder nach Hause fahren“.

Der Ministerialrat leitet kein Reisebüro für Polit-Touristen, sondern das Referat Besucherdienst beim Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Seit den siebziger Jahren gibt es die Möglichkeit, dass jedes Mitglied des Bundestages zweimal im Jahr Gruppen mit bis zu 50 Teilnehmern aus seinem Wahlkreis in die Hauptstadt einladen kann. „Informationsreisen für politisch Interessierte“ heißen diese Fahrten offiziell. Was sich ein Vierteljahrhundert in Bonn und auf Rhein-Dampfern abgespielt hat, ist seit dem Regierungsumzug in Berlin vor Anker gegangen: Die „Wahlbürger“ sollen miterleben, wie und wo Politik gemacht wird und welche Rolle der eigene Abgeordnete dabei spielt. „Bei 603 Abgeordneten sind das über 1200 Gruppen mit etwa 70 000 Bürgern pro Jahr“, rechnet Böttcher vor. 2003 sind 16,9 Millionen Euro für die Reisen ins Herz der Politik im Etat des Bundespresseamts geplant.

Das politische Sightseeing ist ein großer Segen für das Berliner mittelständische Gewerbe: Die Gäste schlafen in Doppelzimmern bis zu drei Nächte in mehr als 100 Drei- oder Vier-Sterne-Hotels. Sie werden mit Omnibussen durch die Stadt gefahren, essen in den unterschiedlichsten Restaurants feste Menüs zu Mittag und Abend, besuchen Museen, Straßen und Plätze und fahren auch mal mit dem Schiff durchs Regierungsviertel. Sie werden von professionellen Betreuern begleitet – der Ausflug in die Metropole kostet keinen Cent. Aber natürlich lassen die Gäste einiges in den Kassen unserer Geschäfte – wenn jeder, sagen wir mal, 50 Euro für Souvenirs, im KaDeWe oder abends beim gemütlichen Beisammensein ausgibt, sind das dreieinhalb Millionen pro Jahr für die Wirtschaft der Stadt.

„Wenn die Zeit zum Geldausgeben überhaupt reicht“, schränkt Joachim Böttcher ein. Die Programme sind dicht gedrängt, mindestens vier Termine pro Tag. Auf der Wunschliste der Gäste ganz oben steht ein Besuch im Kanzleramt, sehr gefragt sind die Dokumentation des Widerstands im Bendlerblock, das Stasi-Untersuchungsgefängnis und das Jüdische Museum.

Und so ist der Ablauf: Als die „Gruppe politisch Interessierter“ auf Einladung des SPD-Abgeordneten Ernst Ulrich von Weizsäcker aus Stuttgart am Bahnhof Zoo eintrifft, wird sie sogleich zum Reichstagufer ins Presseamt der Bundesregierung chauffiert, wo ein Film „das Auge und Ohr der Regierung“ vorstellt. 50 Abiturienten des Herder-Gymnasiums stöhnen auf, als sie erfahren, dass ein Referent ab früh vier Uhr -zig Zeitungen nach den wichtigsten Artikeln und Kommentaren durchforstet, um sie dem Kanzler in einer dicken Mappe zum Frühstück zu servieren. Ihr prominenter Gastgeber, der im erlauchten „Club of Rome“ sitzt und den Bundestagsausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit leitet, lobt, schon auf dem Weg zum nächsten Termin, „diese in der Regel klugen und kritischen Leute“, die hierher kommen, um den Puls der Politik fühlen. Die Weizsäcker-Gruppe erfährt in den vier Tagen viel Berlin und noch mehr Politik – im Auswärtigen Amt, im Bundesrat, im Bundestag, auf der Reichstagskuppel, bei einer Stadtrundfahrt und schließlich im Haus der Wannsee-Konferenz. Am Ende sind die Gymnasiasten des Lobes voll: „Alles war super, wirklich“, sagt Svenja Baas. So ähnlich hört man es später bei einer andere Gruppe aus Kassel, für die sich ihr Gastgeber Jürgen Gehb von der CDU viel Zeit genommen hat. „Man sieht manches, was man vom Fernsehen her kennt, ganz anders“, sagt ein Rechtsanwalt. Die „Faszination Stadt“ sei immens; „wir kommen aus einer Provinzgroßstadt – was mögen da erst die Leute aus Kleinstädten und Dörfern sagen, wenn sie das Brandenburger Tor genauso anfassen können wie ihren Abgeordneten?“

Ach ja, das wollen wir zum Schluss auch noch erzählen: Die Regel, dass jeder Abgeordnete zwei Reisegruppen im Jahr in Berlin empfängt, gilt nicht für die Mitglieder im Haushaltsausschuss. Die haben sich drei Gruppen genehmigt.

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