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Berlin: Daniel Joram (Geb. 1965)

Den Himmel stürmt man nie allein

Niemand weiß genau zu sagen, wie und wann Daniel Joram zum Klettern gekommen ist.

Aufgewachsen ist er in Berlin, einer Gegend, der man zwar viel Stein, aber wenig Gebirge nachsagt. Was nicht stimmt. Nicht ohne Grund wohnte er in der Gleimstraße. Hier befand er sich ganz in der Nähe zum heimlichen Gipfel der Stadt: dem alten Flak-Bunker am Gesundbrunnen.

Die Erwähnung dieses Bunkers lässt jeden müden Freeclimber wach werden, auch weit über die Grenzen der Stadt hinaus. An den hohen, steilen, von Geschichte und Wetter zernarbten Wänden kraxelt alles, was in der Großstadt lebt und den Himmel sucht.

Daniel Joram war der Hausmeister und gute Geist dieses Relikts aus düsteren Zeiten. Kein Riss, kein Loch, keine Unebenheit, die er nicht ertastet hatte. Er tüftelte Routen unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade aus, die quer über die Wände führten. Er setzte Haken in den Beton, kontrollierte, verbesserte, tauschte aus.

Als wollte er dem ursprünglichen Zweck des Bunkers spotten, schwang er sich mit unnachahmlicher Eleganz die Außenwände hoch. Und unterwies andere in dieser Kunst, gab Kurse in Kletterhallen und in den Gebirgszügen verschiedenster Länder.

Denn den Himmel stürmt man nie allein. Das Wichtigste beim Klettern sind nicht die Muskeln, die richtige Stellung der Füße oder die neueste Generation von Karabinern. So sehr Daniel Joram es auch liebte, über diese Dinge zu fachsimpeln und seine Kletter-Ausrüstung hegte wie einen heiligen Schatz, das Wichtigste beim Klettern ist der Partner.

Wer weit oben ist, kann tief fallen. Während der eine Höhenluft atmet, hält der andere dessen Leben am Seil. Das ins Bewusstsein zu heben, war ein Ziel, das Daniel Joram mit beinahe missionarischem Eifer verfolgte. Wo immer er kletterte, ob als Trainer oder zum Privatvergnügen, hatte er einen adlerhaft scharfen Blick für Unachtsamkeit und Nachlässigkeit. Klettern können heißt vertrauen können. Da hielt einer ein Pläuschchen während er sicherte? Da war eine Schlinge nicht korrekt eingehängt? Wer die Sicherheit des anderen nicht achtet, achtet dessen Leben nicht. Der braucht eine Lektion in Verantwortung. Diese zu erteilen, kannte Daniel Joram, eigentlich ein zurückhaltender, besonnener Mensch, keine Scheu. Mochten sie ihn für einen Spaßverderber oder Besserwisser halten, es scherte ihn nicht. Und weil er ein feiner Beobachter und studierter Psychologe war, fand er meist den richtigen Ton, um seine Botschaft in die unterschiedlichsten Gehörgänge zu pfeifen.

Klettern, das war für ihn ein Anti- Ego-Sport. Was nicht hieß, dass er es nicht genoss, die eigenen Grenzen auszuloten, sich zu messen, Wettkämpfe zu gewinnen. Doch redete er nicht über seine Erfolge und mochte es nicht, wenn Freunde ihn baten, vorzuklettern um sein Können zu bewundern.

Was er mochte, waren die Reisen. Kletternd fremde Landschaften, Menschen, Lebensgewohnheiten zu erforschen. Abends am Feuer sitzen, Wein trinken, Kräuter für die Folienkartoffeln sammeln. Dieses unerhörte Glück genießen, einander so tief zu vertrauen, dass man sich gemeinsam über tiefste Abgründe wagt. Was braucht man mehr? Eigentlich nichts, fand Daniel Joram.

Und wehrte sich in zähen Kämpfen gegen jeden Modernisierungsangriff auf seine Wohnung. Der Mann mit der schwarzen Lockenmähne brauchte kein gefliestes Bad, keine Zentralheizung, keine französischen Fenster. Er brauchte eine günstige Miete. Die Honorare für seine Kletterkurse hatten eher symbolischen Wert. Die Arbeit am Bunker machte er ehrenamtlich, ebenso die Konzeption einer neuen Kletterhalle für den Deutschen Alpenverein, deren Realisierung er über sieben Jahre, bis zu seinem Tod, vorantrieb.

Das wenige, das er brauchte, verdiente er bei einer Flughafen-Firma, die er bei Einstellungstests beriet, doch war diese Arbeit für ihn nur ein notwendiger Nebenjob. Auf alten Fotos sieht man ihn als Punk. Doch sprach er darüber nicht, wie er überhaupt wenig von sich erzählte. In knappen Sätzen erzählte er mal, dass er vor dem Militärdienst in der DDR geflüchtet sei und eine Zeit in Ungarn verbracht habe.

Daniel Joram kramte nicht gerne in der Vergangenheit. Der Kletterer konzentrierte sich auf das Jetzt und die nächsten zwei Zentimeter. Vielleicht liebte er das Klettern darum so sehr. Nach der Überwindung von Abgründen, Spalten und steilen Wänden auf einem Gipfel zu stehen – wo wird man sich der Gegenwart und des eigenen Lebens bewusster als an solch einem Ort?

Er hat es nicht aufs Spiel gesetzt, nicht Daniel Joram. Was ihn zu Fall brachte, war eine unglückliche Verkettung von Unwahrscheinlichkeiten.

Seine letzte Reise ging nach Marokko als Expeditionsleiter einer Jugendgruppe. Er war doppelt abgesichert. Ein Steinschlag schnitt beide Seile durch.

„Auch wenn es ein schwacher Trost ist“, sagt eine Freundin. „Aber Daniel ist bei seiner größten Leidenschaft gestorben.“ Anne Jelena Schulte

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