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Berlin: Daniel Kotrc (Geb. 1965)

Wer Daniel Kotrc treffen wollte, musste sich nachmittags gegen 17 Uhr in die Schöneberger Kneipe „Graffiti“ begeben – vorausgesetzt es war ein Tag ohne Werder-Bremen-Spiel. Von seinem Schicksal ließ er sich nicht die Laune verderben.

Wer Daniel Kotrc treffen wollte, musste sich nachmittags gegen 17 Uhr in die Schöneberger Kneipe „Graffiti“ begeben – vorausgesetzt es war ein Tag ohne Werder-Bremen-Spiel. Wenn Werder Bremen spielte, war er unterwegs zum Fan-Einsatz.

Im „Graffiti“ fand man ihn meist vor einem Glas Limonade, ein kräftiger Mann mit wuscheligem Haarschopf, Schirmmütze und gutmütigem Gesicht. Verteilt auf einen Brustbeutel und einen Rucksack, hatte er alles dabei, was er zum Leben brauchte: Tabak und Zigarettenstopfgerät, Fotoapparat, Pokerkarten, ein Backgammon-Spielbrett und die dazugehörigen Präzisions- und Dopplerwürfel. Letztere waren seine Kleinode, eine Sonderanfertigung in den Farben von Werder-Bremen, die er sorgfältig in einem mit Samt ausgeschlagenen Lippenstifttäschchen verwahrte.

An seinem Stuhl lehnte ein Paar Krücken. Daniel Kotrc war querschnittsgelähmt, von Geburt an.

Als er noch klein war, hatte sein Vater mit ihm mehrere Reisen zu spezialisierten Ärzten nach Schweden unternommen, doch die Rückenmarkserkrankung ließ sich nicht behandeln. Aber die Reisen waren keinesfalls vergeblich. Daniel behielt sie in so guter Erinnerung, dass er Zeit seines Lebens bei jeder Fußball-Weltmeisterschaft für Schweden fieberte.

Überhaupt ließ er sich von seinem Schicksal nicht die Laune verderben.

Mit seinen starken Armen und den Krücken war er als Kind fast so flink wie die anderen: Er spielte Fußball, machte Bergtouren, einen Segelschein und einen Fahrtenschwimmer, er lachte und stritt sich mit seinen drei jüngeren Geschwistern, wie es sich gehört.

Gerne reiste er auch durch die Welt von Film und Fotografie. Da fand er, vor allem in der Jugend, Trost, Anregung und Unterhaltung, wenn er sich doch einmal abgeschnitten fühlte von den Vergnügungen der anderen. Einer seiner Lieblingsfilme wurde Hitchcocks „Fenster zum Hof“: Der stille Held im Rollstuhl, der aus seiner teilnehmenden Distanz Wahrheiten aufdeckt.

Neugierig auf das Leben zog Daniel als junger Mann gegen die sorgenvollen Einwände seiner Eltern von Bremen nach Berlin. Hier bezog er eine eigene Wohnung und begann Theaterwissenschaften und Soziologie zu studieren. Im Filmseminar wurde schnell klar, dass er einer vom Fach war, und er bekam eine Assistentenstelle. Doch wichtiger als der Studienabschluss war es ihm, Teil des Spiels zu bleiben, im wörtlichen Sinne. Niemand weiß mehr genau zu sagen, wann und wie Daniel die Welt des Backgammon entdeckte. Tatsache ist, dass er in kurzer Zeit Berliner Backgammon-Meister wurde. Dazu gehörte neben einigem Glück die Fähigkeit, komplexe Wahrscheinlichkeitsrechnungen anzustellen. Auch führte er Laien in die Kunst des Spiels ein, leitete, dokumentierte und organisierte Meisterschaften und Amateur-Turniere. Aus der Ruhe bringen ließ er sich von den Gewinnversessenen unter den Spielern nicht: Warf ihm jemand bei der Beurteilung eines Turnieres eine allzu diplomatische Haltung vor, zitierte Daniel, der Western-Kenner, die Indianerweisheit: „Urteile nicht über den anderen, bevor du nicht eine Meile in seinen Mokassins gelaufen bist.“

War er nicht mit Backgammon beschäftigt, moderierte er das Internetforum von Werder-Bremen, aktualisierte seine Top-Ten-Filmliste, pflegte seine Pokerrunde. Oder er saß im „Graffiti“ und redete über das Leben.

Daniel Kotrc war ein gefragter Ratgeber für Herzensangelegenheiten. Er mochte die Menschen. Über Jahrzehnte hinweg fertigte er hunderte Fotos seiner Freunde an. Bilder, die von der Zärtlichkeit des Betrachters erzählen. Manchmal hörte man ihn stillvergnügt in sich hineinlachen, scheinbar grundlos. Einfach aus Freude am Zusammensein.

Er hatte Pläne für 2013, er wollte nach Norwegen reisen, an den tschechischen Backgammon-Meisterschaften teilnehmen und einen Minijob annehmen, um seine Finanzen aufzubessern. Seine Backgammon-Qualitäten in Geld umzusetzen, ob als Spieler, Veranstalter oder Lehrer, weigerte er sich. Für ihn bestand der Sinn des Spiels im Spiel.

Zuletzt gesehen wurde er bei der Eröffnung der Berliner-Backgammon-Meisterschaften, gut aufgelegt wie meistens. An seinem Rollstuhl, den er in den letzten Jahren den Krücken vorzog, flatterte das gelbe Band der letzten Flugzeugbeförderung: Dass ich im Rollstuhl sitze, heißt noch lange nicht, dass ich nicht fliegen kann!

Er starb im Schlaf, ganz unerwartet. Was bleiben wird, ist die Erinnerung an jemanden, der vielen Menschen Mut und Zuversicht eingeflößt hat.

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