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Berlin: Das akademische Zittern

Die Mahnwache der Studenten geht in den dritten Monat

Von Jessica Claire Reiss

und Jan-Martin Wiarda

Das Thermometer steht bei 4,7 Grad Minus. Janinas Cola ist gefroren. Aber das macht nichts. Sie hat ja den ganzen Morgen Zeit, sie wieder aufzutauen. Die 23-jährige TU-Studentin hat rötliche Haare und ein rötliches Gesicht. Letzteres von der Kälte. Sie hockt auf einer alten Matratze vor dem Roten Rathaus, eingewickelt in ihren Schlafsack und jede Menge Decken. Sie hockt schon eine ganze Weile. Zwei Monate, um genau zu sein. So lange dauert sie bereits, die Mahnwache der streikenden Studenten vor dem Amtsitz des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit.

Heute sind sie zu sechst: Janina und Jörg, beide 22, von der Technischen Universität; Sebastian, 22, und Megan, 20, von der Humboldt-Uni; Oliver, 23, von der Freien Universität. Ach ja, und dann liegt da hinten in der Ecke noch Lutz, der ist 54 und döst noch ein wenig vor sich hin. „Arbeitssuchend“ nennt er sich. Die anderen nennen ihn ihr „Maskottchen“. Sie alle protestieren seit Ende November gegen die geplanten Kürzungen an den Berliner Universitäten. Um 75 Millionen Euro geht es. Bisher sieht es nicht so aus, als würden die Kürzungen zurückgenommen, und die meisten ihrer Mit-Studenten sind inzwischen wieder fleißig am Studieren. Klar stört das die sechs, doch aufgeben wollen sie deshalb nicht. Sebastian hat das Semester längst für sich abgeschrieben. Protest gebe es eben nicht umsonst, sagt der Mathematikstudent. Hier sind er und die anderen zur Abwechslung mal nicht einer Meinung. Oliver, der Ethnologie und Linguistik studiert, will für seine Klausuren pauken. Einmal hat sein Professor sogar ein Seminar vors Rote Rathaus verlegt, damit Oliver mitmachen kann. Am wenigsten aber hat wohl Megan erwartet, wochenlang in der Kälte statt im Hörsaal zu sitzen. Eigentlich hatte die Austauschstudentin aus Cincinnati/Ohio nur ein paar Fotos von der Mahnwache machen wollen, doch sie ist hängen geblieben. Der Streik fasziniert sie. „In den USA würde es so etwas nie geben.“

Diesen Freitagabend machen sie eine Jubiläumsparty mit Live-Musik und Glühwein, Motto: „Der Protest muss weitergehen!“ Noch sitzen Janina und die anderen auf ihren Matratzen und teilen das Quiche unter sich auf, das ihnen eine Frau um die 50 gerade vorbeigebracht hat. Überhaupt kriegen sie viel Besuch hier. Da ist der Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut, der öfter vorbeischaut und das Durchhaltevermögen der Studenten lobt. Oder die 85-jährige Neuköllnerin, die sie anstachelt, Wowereit mit Gewalt aus dem Roten Rathaus zu holen. Nicht zu vergessen der Bildhauer, der jeden Tag kommt, auch wenn er findet, dass die Falschen hier sitzen. Die Professoren müssten das eigentlich ausfechten, sagt er: „Die Studenten sollten sich nicht hier draußen rumquälen, sondern studieren.“

Rumquälen ist das richtige Wort. Letzte Nacht ist das Thermometer auf minus acht Grad gesunken. Doch das sei gar nicht so schlimm, versichert Oliver: „Daran haben wir uns gewöhnt.“ Was nichts daran ändert, dass er ziemlich erfroren aussieht. Die blaue Mütze hat er sich tief in die Stirn gezogen, sein Gesicht ist fast genauso blau. Ab und zu geht einer von ihnen zum Duschen nach Hause. Oder sie halten Reden auf Studentenversammlungen, bejubelt von ihren weniger einsatzbereiten Kollegen. Das ist alles. Ansonsten heißt es hier hocken, frieren und Tee trinken. Trotzdem, sagt Oliver, fehle ihnen nichts hier draußen. Tage und Nächte hocken sie beinander, dicht an dicht. „Die Frage ist, was uns fehlen wird, wenn wir wieder zu Hause sind. Allein.“

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