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Berlin: Das Alter bestimmt schon jetzt die Therapie

Hundertjährige arthrosekranke Berlinerin bekam erst ein künstliches Hüftgelenk, als sie aus dem Rollstuhl stürzte und sich den Oberschenkel brach

„Jeder Patient hat Anspruch auf eine zweckmäßige und notwendige ärztliche Behandlung – unabhängig von seinem Alter“, sagt Sybille Golkowski, Sprecherin der Berliner Ärztekammer. Eine rationierte Versorgung für Alte – wie sie der Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, aus Kostengründen vorgeschlagen hat – hält sie für „zynisch und unethisch“. Soweit die Theorie. Die Praxis sieht anders aus. Da spielt das Alter durchaus eine Rolle bei der Entscheidung, welche Therapie angewandt wird.

Jeder Doktor müsse das Verhältnis von Nutzen und möglichem Schaden eines Eingriffes abwägen, sagt Christoph Stelzl, stellvertretender Leiter des Zentrums für Altersmedizin am Wenckebach-Klinikum in Tempelhof. „Ein 90-Jähriger würde wahrscheinlich keine Lebertransplantation erhalten“, sagt Stelzl. „Einfach, weil er diese schon für junge Menschen sehr belastende Operation nicht verkraften würde.“ Und bei älteren Patienten, die unter Demenz litten oder gleich unter mehreren Krankheiten, müsse der Arzt bestimmte Eingriffe vermeiden, denn diese könnten lebensgefährlich sein. „Da muss der Arzt entscheiden, ob er das, was medizinisch maximal möglich wäre, auch tatsächlich tut.“

Das gilt auch für die Implantation von künstlichen Hüftgelenken. Wolf-Jürgen Schwerdtner ist 60 Jahre alt, Chirurg und niedergelassener Hausarzt. Der Mediziner hat „rund 1500 Hüften eingebaut“, wie er sagt. Eine hundertjährige Berlinerin war seine älteste Patientin. Natürlich spiele bei solch hochbetagten Menschen die Lebenserwartung für den Arzt eine Rolle, sagt er. „Die Patienten, die über 80, 90 Jahre alt sind, die zählen ihr Leben nach Tagen. Die fragen sich, erlebe ich den nächsten Tag noch.“ Und so mancher Doktor sage sich dann: Bei nur noch einem verbleibenden Jahr lohnt sich die lange und belastende Therapie nicht. „Beispielsweise bei einem 95-Jährigen, der in seinem Heim bettlägerig und schwach ist und fast keine Lebensqualität mehr hat.“ Gegenbeispiel: In Berlin lebt ein 90-jähriger Mann, der noch am Marathon teilnimmt. Da könne ein solch aufwändiger Eingriff wie bei einem jüngeren Menschen durchaus möglich und richtig sein, sagt Schwerdtner.

Die hundertjährige Frau, die er behandelt hat, saß im Rollstuhl, weil sie unter Arthrose litt, also unter der schmerzhaften Abnutzung des Knorpels zwischen den Gelenken. Eigentlich ein typischer Fall für ein künstliches Hüftgelenk. Trotzdem war sie nicht für eine solche Operation vorgesehen – wegen ihres hohen Alters. Schwerdtner: „Wenn der Patient mit den Schmerzmitteln gut zurechtkommt und sich zum Beispiel an den Rollstuhl gewöhnt hat, dann wird ihm in einem solchen Falle wegen der Belastungen und Risiken kein neues Hüftgelenk eingesetzt.“ Die alte Dame bekam erst eine Prothese, als sie aus ihrem Rollstuhl gestürzt war und sich den Schenkelhalsknochen gebrochen hatte. „Es bestand Lebensgefahr“, sagt Schwerdtner. Nach diesem Unfall wäre sie für immer ans Bett gefesselt gewesen. „Viele sterben nach so einem Verlust ihrer Mobilität binnen vierzehn Tagen.“ Also bekam die Dame ihr neues Hüftgelenk – genau an ihrem 100. Geburtstag. „Das war mein Geschenk für sie“, sagt Schwerdtner. Drei Wochen später konnte sie den Rollstuhl sogar verlassen. Sie starb mit 104 Jahren.

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