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Berlin: Das Bauchwunder

Oft ist er die letzte Hoffnung seiner Patienten: Peter Neuhaus von der Charité schafft Operationen, die noch nie einer gewagt hat. Er verpflanzt Organe – neulich acht auf einmal.

Sie war das Versuchskaninchen. Aber es hat ihr auch das Leben gerettet.

Irgendwann war dem Arzt die Idee gekommen, ihre acht kranken Organe auf einmal auszutauschen. Weil es einzeln nicht möglich war. Viel zu viel war kaputt in ihrem Bauch: Leber, Bauchspeicheldrüse, Magen, Zwölffingerdarm, Dünndarm, Teile des Dickdarms, rechte Niere, rechte Nebenniere – ein einziger Klumpen. Stefanie H. hatte eine chronische Darmkrankheit. Schon oft hatte man ihr Stücke des Darms weggeschnitten, die Medikamente griffen schon andere Organe an. Sie war 36 Jahre alt, und man hatte ihr gesagt, dass sie das Krankenhaus nicht lebend verlassen würde.

Aber dann kam Professor Peter Neuhaus diese Idee: achtfache Transplantation. Hatte noch nie einer gemacht, in Europa. Das sei schon „ein bisschen heroisch neu“ gewesen, sagt er und lächelt, aber kurz nur, als wollte er den Eindruck vermeiden, er freue sich über seinen Wagemut. Neuhaus ist sehr uneitel. Er ist ein ruhiger Mann, spricht leise, schnell und konzentriert; meistens ist er in Zeitnot. Ob das technisch möglich war, das hätten sie damals ja nicht gewusst, sagt er. Er sagt „wir“, er meint sein Team. Acht bis zehn Leute, Transplantationsmediziner der Charité, Campus Virchow-Klinikum, Haus 4, erster Stock. Hier liegen Operationssäle und Arztzimmer. Und Professor Neuhaus, 57 Jahre alt, ist der Chef.

Acht Organe auf einmal. Einen Bauch aufmachen, ausräumen und den Bauch von jemand anderem hineintun. Neuhaus nennt es „experimentelle Chirurgie“, was er da macht. Neues wagen, Unmachbares machbar machen, Operationen erfinden. Kollegen sagen über ihn, er sei der Beste, den sie haben. Eine Kapazität, auch international.

Acht Organe auf einmal. Ist das fair? Es gibt auch eine ethische Komponente bei so außergewöhnlichen Operationen, für die es kaum Vorbilder, geschweige denn Regeln gibt. Darf man einer einzigen Patientin so viele Organe geben, wo man doch mehrere Menschen retten könnte? Mehr als 9000 Nierenkranke warten in Deutschland auf eine Spende, sechs Jahre kann das dauern, 1350 Menschen brauchen eine neue Leber. Wäre Stefanie H. über 60 gewesen, hätte man es vielleicht gelassen, sagt Neuhaus. Aber 36. Das muss man doch wenigstens versuchen.

Es gab schon viele Experimente in Neuhaus’ Leben. 1991 hatte er als Erster einen Patienten mit Gallengangskrebs einer Transplantation unterzogen. Er sagt: „Wissen Sie, wie schlimm das ist, wenn die Leute plötzlich gelb werden, und dann haben sie einen Tumor im Gallengang und drei Monate später sind sie tot?“

Als einer der Ersten weltweit hat er sich auch an die Transplantation eines Dünndarms gewagt, dieses hochempfindlichen Organs. 14 Operationen bisher, zwei Patienten tot. Schlimme Momente. Nackenschläge, mit denen man fertig werden müsse. Indem man den Fehler sucht. Mit den Kollegen immer wieder den OP-Bericht durchgeht. Man lerne, den Druck zu ertragen. „Wir machen 4500 Operationen im Jahr“, sagt er. Und: „Man trifft viele Entscheidungen erst im OP.“

Neuhaus ist also mit seiner ein bisschen heroischen Idee zur Patientin gegangen, die zu dem Zeitpunkt seit zwei Jahren im Krankenhaus lag, das war vor einem Dreivierteljahr. Er sagt, dass er versucht habe, ehrlich zu sein. „Man darf nichts verschleiern, und man muss menschlich reden.“ Die Patienten, mit denen er es tun bekommt, haben schon viel gelitten.

Stefanie H. willigt ein. Monate später kommt endlich der Anruf von der DSO, der Deutschen Stiftung Organspende, wo alle Spendewilligen gemeldet werden müssen. Ein Team fliegt los zu dem Ort, an dem der Spender gestorben ist; für jedes Organ, das entnommen wird, ist ein Experte dabei. Im Virchow-Klinikum wird fast zeitgleich die Patientin auf die Organeinpflanzung vorbereitet. Acht Stunden dauert es allein, bis die kranken Organe entfernt sind. Acht Stunden Stehen, kein Trinken, kein Essen, kein Ich-muss-mal. Man merke das nicht, sagt Neuhaus. Fast alle bleiben so lange im OP. Nur die Dünndarmspezialisten kommen später. Sie sind als Letzte dran.

Transplantation heißt: Jemand kann weiterleben, weil ein anderer stirbt. Stefanie H. ist wieder zu Hause, seit kurzem. Sie muss zur Nachsorge und dauernd Medikamente nehmen. Aber sie lebt. Man könnte sagen, das gibt dem Tod des Spenders einen Sinn. In Deutschland haben nicht viele Menschen einen Organspendeausweis. Die meisten weichen der Entscheidung aus. Andere haben Angst. Es komme vor, sagt Christoph Broelsch, Leiter des Transplantationszentrums Essen, dass auf der Station oben jemand stirbt und unten jemand liegt, der mit dessen Leber weiterleben könnte. Dass die Ärzte zu den Angehörigen gehen und fragen, ob sie mit einer Entnahme einverstanden seien, weil der Tote keinen Spendeausweis hat. Meistens sagten die Angehörigen Nein.

Neuhaus stammt aus Almena, Lippe, er ist im Juni 1946 geboren. Schon früh wollte er Chirurg werden. „Ich habe immer gerne gebastelt“, sagt er. Flugzeuge zusammengebaut, Autos repariert. Fitzelarbeit, für die man Geduld und Geschick braucht. Und dann war da der Vater eines Freundes, der war Chirurg. „Tja“, sagt Neuhaus, so kam er dazu.

Als Neuhaus anfängt zu studieren, führt im Dezember 1967 in Kapstadt Christiaan Barnard die erste erfolgreiche Herztransplantation durch; in Belgien lebt ein Patient nach einer Lungentransplantation zehn Monate weiter; 1969 wird in München das erste Herz in Deutschland transplantiert. Und 1972 startet Professor Rudolph Pichlmayr in Hannover das größte deutsche Lebertransplantationsprogramm. In diese Entwicklung gerät Neuhaus. Er operiert Schweine – Schweinelebern sind Menschenlebern ähnlich –, versucht sich in Pichlmayrs Auftrag an der Entwicklung einer Leberersatzmaschine. Pichlmayr ist für Neuhaus „einer der größten Chirurgen Deutschlands“. Er wird sein Vorbild. Auch wegen seiner Menschlichkeit.

Als Pichlmayr 1997 stirbt, ist Neuhaus selber Lehrer. Sein Leitsatz, ganz Pichlmayr, heißt: „Wir operieren hier nicht für die Statistik, wir behandeln keine Krankheiten, wir behandeln Menschen.“ Peter Neuhaus lehnt sich zurück, kneift die Augen zusammen und guckt, ob man verstanden hat. Es ist ihm ernst. Patienten sagen, dass sie sich bei ihm nie wie eine Nummer gefühlt haben.

Irgendwann sagt Neuhaus dann doch, die Mammut-Operationen seien anstrengend. Zwölf Stunden oft. Aber die Belastungen für den Arzt nennt er „lächerlich“. Verglichen mit dem, was die Patienten ertragen.

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