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Berlin: Das Exempel

Gerichtsverfahren für Mai-Randalierer endeten meist mit Strafen auf Bewährung. Bei Kai N. griff der Richter durch. Eine Begegnung

Gefängnis. Zwei Jahre. Ohne Bewährung. Den Rest des Urteils hörte Kai N. schon nicht mehr, die Worte des Richters gingen in einem Rauschen unter. Gefängnis. Der Staatsanwalt hatte acht Monate auf Bewährung gefordert, sein Verteidiger Freispruch. Und jetzt sprach der Mann mit der schwarzen Robe da oben vom 1. Mai, über die Traditionsrandale und die Chaoten. Auch sein Anwalt stand da wie vor den Kopf geschlagen. „Ich dachte erst, der Richter läuft Amok“, sagt der Strafverteidiger Marcel Kelz. Noch im Saal ließ das Gericht seinen Mandanten verhaften, den 22-Jährigen von den Wachtmeistern durch die unterirdischen Geheimgänge des Moabiter Kriminalgerichts abführen. Direkt ins Gefängnis.

Es war kein Amoklauf, es war ein Signal. Jetzt ist endlich Schluss, wollte der Richter mit dem Urteil offenbar sagen. Die Justiz duldet es nicht mehr, dass jahrein, jahraus in Kreuzberg zum 1. Mai Autos angesteckt, Geschäfte geplündert, Scheiben eingeschmissen und Polizisten verprügelt werden. Dass die erwischten Randalierer anschließend die Anklagebänke in Moabit bevölkern, wo sie von den Richtern schon fast routiniert abgeurteilt werden. Ein Stein? Macht etwa ein Jahr, das ist die Faustregel. Geständig? Keine Vorstrafen? Also Bewährung. Der Nächste, bitte!

Der Richter am Landgericht aber hat sich für die harte Gangart entschieden: Nix Bewährung und dazu auch noch U-Haft – das gab es bei vergleichbaren Fällen noch nie. Er scheint die traditionelle Randale genauso leid zu sein wie die Kreuzberger, die Geschäftsleute, die Polizei. Kelz kann nachvollziehen, dass das Gericht versucht hat, vor dem sich nähernden 1. Mai ein Exempel zu statuieren. Nur im Fall von Kai N. hätte der Verteidiger nie mit einem solchen Urteil gerechnet, schließlich war der Anwalt nach der ersten Instanz selbst in Berufung gegangen, weil ihm vier Monate mit Bewährung schon als zu hoch vorgekommen waren. Kelz schüttelt den Kopf. „Es hat den Falschen erwischt.“

Neun Tage saß Kai N. in Untersuchungshaft, glaubte erst an einen bösen Traum, hätte dann beinahe in seiner Dreimann-Zelle die ersten Striche an die kahlen Wände gemalt. „Ich habe schon angefangen, die Tage rückwärts zu zählen“, sagt der Fleischerlehrling. Ein stämmiger Typ, kurze Haare, runde Brille, Jeans. Am zehnten Tag hatte ihn sein Anwalt vorerst wieder draußen, der junge Mann aus Hohenschönhausen wurde von der Haft verschont, weil er einen festen Job hat, eine Wohnung, Freunde, Familie und einen Lehrherren, der für Kai N. seinen guten Namen hergab. „Kai N. verhielt sich vorbildlich. Er war pünktlich, zuverlässig und zeigte vollstes Engagement“, schrieb der Fleischermeister dem Gericht.

Ein vielleicht vorbildlicher Lehrling, allerdings mit einem eher zweifelhaften Freizeitverhalten. „Wir hatten die Walpurgisnacht bei einem Kumpel gefeiert“, sagt Kai N. und meint: Es wurde gesoffen, was das Zeug hielt. Am nächsten Tag zogen sie dann zu dritt nach Kreuzberg weiter, um am Mariannenplatz Freunde in einem besetzten Haus zu besuchen. Es gab Bier bis zum Abwinken, Jägermeister, eine Flasche Saurer Apfel, den einen oder anderen Joint…

Am Abend wollte Kai N. nach eigener Version dann zur U-Bahn laufen, geriet in die aufgeregte Menge, wurde eingekesselt und warf aus Frust eine schwarze Plastikschachtel durch die Luft – die Dose von seinem Mundschutz. Doch weshalb hatte sich Kai N. wie ein Boxer für den Kampf gerüstet, wenn er nach eigenen Angaben doch nur friedlich feiern wollte? „Sicherheitshalber“, sagt der 22-Jährige zögerlich. Falls er in die Randale geraten sollte, wie es ihm schon öfter bei den Antifa-Demos oder bei den Auseinandersetzungen mit den Rechten in Hohenschönhausen passiert sei. Kai N. sagt: „Da geht es nicht gerade sanft zur Sache.“

So kam es auch am 1. Mai 2003 in Kreuzberg. Nachdem die Menschen rund um den Heinrichplatz stundenlang friedlich gefeiert hatten, brach am Abend der Krawall los. Jugendliche warfen Steine in die Fenster eines Autohauses, errichteten Barrikaden, zündeten parkende Wagen an. Die Bilanz der Polizei: 196 Festnahmen. 104 der Gefassten waren jünger als 21 Jahre, 171 deutsche Staatsbürger. Acht Verdächtige rechneten die Ermittler der links-, fünf der rechtsextremistischen Szene zu. Darüber, wie viele von den Festgenommenen tatsächlich verurteilt wurden, führt in Berlin niemand eine Statistik. Haftstrafen gelten bei den 1.-Mai-Prozessen aber eher als die Ausnahme.

In der Oranienstraße fand sich Kai N. nur wenige Sekunden nach seinem Wurf auf dem Asphalt wieder. Ein Polizist beschuldigte ihn, nicht nur eine Plastikdose, sondern einen Pflasterstein geworfen zu haben. Weil das Corpus Delicti aber nie gefunden wurde, entschied das Amtsgericht im Zweifel für den Angeklagten: Es verurteilte Kai N. im November zu vier Monaten auf Bewährung. Verteidigung und Anklage legten Berufung ein. Für die zweite Verhandlung nahm sich der Lehrling in der Fleischerei nur ein paar Stunden frei – und kehrte tagelang nicht zurück. Die Chancen, dass ein Urteil in dritter Instanz vom Kammergericht wieder kassiert wird, gelten allgemein eher als bescheiden, trotzdem ist Kelz optimistisch. „Der Richter ist seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen.“ Soll heißen: Vom Landgericht sei nie geprüft worden, ob es sich bei „dem schwarzen, fliegenden Gegenstand“ nicht doch um eine Dose gehandelt haben könnte.

Bleibt es bei dem Urteil, muss Kai N. noch in diesem Jahr ins Gefängnis. Ihn zumindest hat das Signal aus Moabit erreicht: Um Kreuzberg will der 22-Jährige dieses Jahr einen weiten Bogen machen. „Ich habe absolut keinen Bock auf Ärger“, sagt Kai N. Allerdings ist er ganz sicher: Den werden andere machen. Am 1. Mai, Treffpunkt Oranienstraße.

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