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Berlin: Das fliegt ihnen um die Ohren

Grün, stadtnah und bezahlbar: Deshalb kauften die Wegners vor zwölf Jahren ein Haus in Mahlow im Süden Berlins. Der Fluglärm aus Schönefeld werde sich aushalten lassen, glaubten sie. Heute glauben sie das nicht mehr – und der Airportgesellschaft auch sonst nichts. Aber nun sitzen sie fest.

Das sagen sie ihm immer wieder und streicheln seinen Kopf: „Es sind doch nur Flugzeuge“, sagen sie. Doch der Junge lässt sich nur schwer beruhigen. Tränen rinnen ihm über die Wangen. Der Schreck nach dem plötzlichen Aufwachen aus dem ersten Schlaf sitzt immer tief. Seine Angstzustände, seine Vorstellungen und seine Träume kann man nur ahnen. Wenn er wach wird, weil ein Flugzeug über das Haus gedonnert ist, steht er im Bett und weint. Dann streichen die Eltern ihm über den Kopf und sagen den Satz, den sie immer sagen, der aber im Grunde nicht mal sie selbst beruhigt. Denn die Flugzeuge werden mehr werden. Sie werden früher losfliegen und später damit aufhören. Und was wird aus ihrem Jungen?

Maurice Wegner ist sieben Jahre alt und der lebende Beweis dafür, dass man sich nicht an alles gewöhnen kann. Als er zur Welt kam, lebten seine Eltern schon fünf Jahre lang im Musikerviertel von Mahlow-Blankenfelde. Der Vorort liegt, wie auch der Flughafen Schönefeld, im Süden Berlins, über die Bundesstraße 96a sind sie 12,6 Kilometer von ihm entfernt. Luftlinie ist die Startbahn nur vier Kilometer weit weg. Maurice ist Fluglärm also gewohnt, an ihn gewöhnt hat er sich allerdings nicht.

Und für seine Eltern gilt, dass sie den Zustand wie er ist, kaum noch ertragen und darum auch nicht wissen, was werden soll, wenn der neue große Hauptstadtflughafen Willy Brandt, der den kleinen alten Schönefelder Airport ersetzen soll, im Frühjahr 2013 in Betrieb geht. Vater Maik Wegner, 44, Kurzhaarfrisur, Polizeibeamter, wählt drastische Worte für die Lage: „Meine Kotzgrenze ist schon längst erreicht“, sagt er. „Lieber heute als morgen würden wir hier wegziehen, aber wer will so ein Haus in der Einflugschneise schon kaufen?“ Die Lebensqualität sei stark gesunken und mit dem neuen Airport falle sie erst recht zu Boden. Da helfe auch das beste Schallschutzprogramm nicht viel. Und dass es das beste sein wird, das sie bekommen, ist überhaupt nicht ausgemacht.

Der bisherige Schallschutz in ihrem Haus reicht ihnen schon lange nicht. Und reicht erst recht nicht mehr, seit das Oberverwaltungsgericht Berlin am vergangenen Freitag im Lärmschutzstreit zwischen Anwohnern und der Flughafengesellschaft FBB entschieden hat, dass die Lärmobergrenze von 55 Dezibel niemals überschritten werden darf.

Maik Wegner läuft mit einem kleinen Messgerät in der Hand durch sein Wohnzimmer. Er kennt natürlich die einzige Stelle, auf der die digitale Anzeige kurzzeitig unter die magische Zahl von 55 fällt. Sie befindet sich genau in der Mitte des rund 30 Quadratmeter großen Raumes. Nur einen halben Schritt daneben ist ein „normales Gespräch“, für das 55 Dezibel stehen, nicht möglich. Da springt die digitale Anzeige gleich auf 65 Dezibel und sogar noch höher. Dann muss die Stimme kräftiger werden – oder ganz schweigen. Manchmal dauert so eine Pause eine halbe Minute. Das hängt vom Flugzeugtyp ab. Maik Wegner kennt alle gängigen Maschinen, fliegen sie doch nur wenige hundert Meter von ihm entfernt. In Spitzenzeiten donnern die Flugzeuge schon jetzt alle fünf Minuten über das Musikerviertel hinweg. Nach der Eröffnung des neuen Airports könnte jede Minute eine startende oder landende Maschine das Leben in dieser Region regelrecht ersticken.

Maik Wegner klopft mit dem Handrücken gegen die Fensterscheibe zur Terrasse. 5,8 Millimeter kriegt man so leicht nicht klein. Die nächste Stärke bedeutet dann schusssicheres Panzerglas. Darauf hat die Familie jetzt wohl Anspruch, nach der Gerichtsentscheidung vom Freitag, in der auch der FBB-Antrag auf Ausnahmen beim Schallschutz zurückgewiesen wurde.

Dass die Wegners schon Schallschutzfenster haben, liegt auch am Beharrungsvermögen von Vater Maik. Während viele Neu-Mahlower im Musikerviertel auf Verbesserungen ihrer Lage nach Eröffnung des neuen Airports vertrauten, sprach Maik Wegner schon 2007 bei der Flughafengesellschaft vor. Zum Beweis holt er einen dicken Ordner mit der Aufschrift „Schönefeld“ aus dem Schrank. 30 Briefe hat er abgeheftet. Die Köpfe tragen Anschriften der Flughafengesellschaft, von Ingenieurbüros und Baufirmen. Weiter unten werden Termine angekündigt, abgesagt, Beschwerden und Antworten formuliert und vor allem Paragrafen in unverständlichem Bürokratendeutsch zitiert. „Am Anfang sollten wir uns wirklich mit den minderwertigsten Schallschutzfenstern und den billigsten Monteuren zufriedengeben“, sagt Wegner. Einmal sei sogar eine Agrargenossenschaft aus Cottbus aufgekreuzt, die so „nebenbei“ im Auftrag der Flughafenbauer das Wohnzimmer dämmen wollte. „Viele Firmenvertreter haben einen wenig professionellen Eindruck hinterlassen“, erinnert er sich. Erst nach einem wahren Ämtermarathon seien dann die richtigen Fenster eingebaut worden. 16 000 Euro kostete die Isolierung des Wohnzimmers. Allerdings bleibt der Fluglärm dennoch nicht draußen. Er kriecht durch die nicht isolierten Haus- und Wohnungstüren und durch die Fenster im WC und im Arbeitszimmer, für die es keinen Lärmschutz gibt.

Damit die Familie in ihren isolierten Wohn- und Schlafzimmern nicht erstickt, hängt neben dem Fenster ein etwa 40 Zentimeter hoher Lüfter. Er saugt Luft von draußen an, lässt aber keine wieder hinaus. „Es ist ein beklemmendes Gefühl, sich in einem aufgepumpten Raum aufzuhalten“, sagt Maik Wegner. „Dazu kommt das laute Geräusch des Lüfters, das Fernsehen oder Telefongespräche unmöglich macht.“ An sich und seinem Sohn hat Wegner bereits Asthmasymptome attestiert bekommen. „Bei mir wurde eine 30-prozentige Beeinträchtigung festgestellt“, sagt er, „bei meinem Sohn sind es sogar 40 Prozent.“ Und seine Frau klage oft über Kopfschmerzen.

Lärm, schlechte Luft und daraus resultierende körperliche Beeinträchtigungen. Das waren genau die Gründe, die Maik Wegner und seine Frau Katrin im Jahr 2000 bewogen haben, die Stadt Berlin zu verlassen und sich das Haus im Musikerviertel zu kaufen, das sie mit einem Kredit finanzierten. Wie viele Großstädter träumten sie von grüner Umgebung, Terrasse und Garten. Die neue Siedlung in Mahlow entsprach so ganz den Wünschen des Polizisten und der Krankenschwester. Stadtnah, verkehrsgünstig und bezahlbar. Die Wegners erhielten die Wohnung am Ende der Reihenhäuser und waren nicht zuletzt deshalb sehr zufrieden. Die Zahl der Flugzeuge über ihren Köpfen hielt sich damals in Grenzen, und der Bau des neuen Großflughafens war kaum mehr als eine Idee, das Genehmigungsverfahren erst angelaufen.

Es gibt einen Imagefilm von 2010, der für das Musikerviertel wirbt, den „Wohnpark mit der besonderen Note“. Er nennt genau die Argumente, die auch die Wegners anlockten. Unter dem Slogan „Die Welt schaut auf diese Region“ wird in dem Filmchen die Eröffnung des neuen Airports – damals noch für Ende 2011 erwartet – als „starkes Argument“ für den Kauf der Häuser und Doppelhaushälften angepriesen: wegen der dann noch verkehrsgünstigeren Lage. In jenem Jahr 2010 wurden die Flugrouten erstmals bekannt gemacht, die alle zuvor abgegebenen Versprechen Lügen straften – und im Süden Berlins brach ein Monate währender wütender Protest aus.

Von dem hat, im Saarland wohnend, Gülli Demirci nichts mitbekommen. Sie wohnt mit ihrem Mann, ihrer Tochter und drei Enkelkindern erst seit einem Jahr im Mahlower Chopinring. Anfangs waren sie alle hoch erfreut, weil sie ihr Häuschen sehr günstig bekamen. „Wir ahnten nicht den Grund dafür“, sagt Gülli Demirci. Dann schweigt sie. Der Ärger über die Entscheidung, direkt in die Einflugschneise gezogen zu sein, braucht keine Worte, ihr Gesichtsausdruck sagt alles. Gerade ist der für Mahlow zuständige Lärmschutzbeauftragte bei ihr und notiert sich Wünsche und Probleme. Im Haus von Gülli Demirci geht es zunächst um drei entscheidende Zentimeter. Die fehlen in einem als Wohnraum genutzten Raum im Keller. Zwei Meter 22 sind es vom Fußboden bis zur Decke. Erst ab zwei Metern und 25 Zentimetern besteht ein Anspruch auf Schallschutz. „Da müsste doch was zu machen sein“, findet Gülli Demirci. Auch das Küchenfenster erhält einen Eintrag auf seinem Notizzettel. Aus unerfindlichen Gründen fiel es bei der Schallschutzprüfung durch.

Maik Wegner werkelt unterdessen weiter an seinem Haus. Die Überdachung der Terrasse könnte noch verbessert werden, überlegt er. Allerdings malt er sich keinen netten Grillabend oder eine Mußestunde mit Freunden aus. Die sind bei dem Lärm nicht drin. Er überdacht die Terrasse allein aus dem Grund, dass die Überdachung Flugzeugkrach abfangen könnte. „Alles dient der Abschottung des Wohnzimmers“, sagt er. Doch er weiß selbst, dass er nicht viel ausrichten kann. Der Lärm lässt sich einfach nicht besiegen. Das beweist das Messgerät.

„Wir haben ja immer noch auf veränderte Flugrouten des neuen Airports gehofft“, sagt Maik Wegner. „Wenn die Maschinen wenigstens entlang der Bundesstraße 96 fliegen würden, wäre uns schon viel geholfen. Aber wir liegen genau im Korridor.“ Seine Frau Katrin ärgert sich noch über andere Dinge. Das Kerosin in der Luft sei manchmal direkt zu riechen. „Meine Leinen an der Wäschespindel sind spätestens nach zwei Jahren porös, die Pflanzen halten maximal vier Jahre durch, und die Flecken auf dem Autolack haben sich regelrecht eingebrannt“, zählt sie auf.

Vielleicht wird Maik Wegner doch noch die Wohnzimmertür abdichten und einen Antrag auf Entschädigung bei der Flughafengesellschaft stellen. Vielleicht aber auch nicht. Auch die Entscheidung, ob sie noch einmal alle Fenster herausreißen lassen, um sie durch dickere zu ersetzen, ist bei den Wegners noch nicht gefallen. Was dafür spricht, ist vor allem der gestörte Schlaf ihres Sohnes. Und auch tagsüber lebt das Kind im Lauten. 63 Dezibel messen die Eltern an seinem Maltisch, als eine von vielen täglichen Easyjet-Maschinen das Musikerviertel überfliegt. Acht mehr als erlaubt.

Gegenüber der Wegnerschen Doppelhaushälfte steht ein Einfamilienhaus. Beige verputzt, ein Spitzdach mit dunkelgrauen Glanzziegeln. Die Jalousien der Erdgeschossfenster sind heruntergelassen, das Rasengrün wächst und sprießt rund herum. Seit vier Jahren steht das Haus leer, niemand will es haben. Nur einmal haben es Menschen ein Jahr lang darin ausgehalten, bevor sie Hals über Kopf vor dem Krach geflüchtet sind. Auch Pläne, auf der anderen Seite vom Chopinring neue Häuser zu bauen, wurden aufgegeben. Und noch einer gab auf: der Hund der Wegners. Der habe immer schwerer atmen können, weil ihm die Luft im isolierten Zimmer ebenso wenig bekommen sei wie der Kerosingestank im Freien, vermutet Maik Wegner. Er sagt: „Der ist hier einfach erstickt.“

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