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Berlin: Das Geheimnis der Alexandrowka 3

Wurde in einem Potsdamer Garten ein Opfer des sowjetischen Geheimdienstes vergraben? Nach mehr als 67 Jahren könnten Ermittlungen aufgenommen werden.

Potsdam - Jahrzehntelang dachte Ernst-Friedrich Gluschke nicht daran. Die Entdeckung, die er als 14-Jähriger mit einem Freund machte, war zu traumatisch. Gluschke schwieg, zunächst aus Angst vor stalinistischer Verfolgung. Und später, nach 1950, als er im Westen war? Wem hätte er es dort erzählen sollen, die Schauergeschichten aus dem Osten, von den Russen, die am 27. April 1945 seine Heimatstadt Potsdam einnahmen ? Die das Wohnhaus seiner Eltern beschlagnahmten, um dort Gefangene zu verhören, vielleicht zu foltern – und mindestens einen von ihnen zu töten.

Gluschke, 1930 in Potsdam geboren, sitzt in Bremen vor seinem Computer und liest im Internet Artikel aus seiner Heimatstadt. Plötzlich schrickt er auf, in Potsdam diskutieren sie, ob es möglich ist, dass auf dem heutigen Nachbargrundstück des ehemaligen sowjetischen Geheimdienstgefängnisses in der Leistikowstraße 1 getötete Gefangene begraben sein könnten. Ein neues Grundschulgebäude soll gebaut werden, dahin, wo der Gefängnisparkplatz war. Ist es möglich, dass dort Opfer des sowjetischen Geheimdienstes aus der Zeit um 1946 begraben liegen? Dass sie gefunden werden, wenn die Baugrube ausgehoben wird?

Natürlich ist das möglich! Bei dem 82-Jährigen kommt die Erinnerung wieder hoch. Jetzt kann er nicht mehr schweigen. Seine Geschichte klingt glaubwürdig, die heute recherchierbaren Indizien geben Gluschke recht. Wenn dem so ist, dann muss das Ende der Geschichte noch geschrieben werden – durch die Staatsanwaltschaft und durch Kriminaltechniker, die sie ans Tageslicht bringen.

Ende April 1945. Die Divisionen der Roten Armee umfassen in einer Zangenbewegung die Reichshauptstadt Berlin. Am 26. April besetzen sie die Pfaueninsel, die Einnahme Potsdams steht unmittelbar bevor. Ernst-Friedrich Gluschke flieht mit seiner Mutter nach Ketzin. Am 10. Mai kehren sie zurück, zwei Tage nach der bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands. Ihr Haus Alexandrowka Nr. 3 ist von den Russen besetzt, die Familie findet Unterschlupf in der Nr. 12. Der 14-jährige Junge behält sein Elternhaus im Blick. Ende Mai ziehen die Soldaten ab. Gluschke und seine Mutter kehren zu ihrem Haus zurück, alles ist verwüstet. Im Garten unter dem Apfelbaum, etwa in der Mitte der Hausrückwand, ein paar Schritte in Richtung Schragen, ist ein Grabhügel aufgeschüttet.

Plötzlich kommt ein sowjetischer Soldat zurück, ruft „Dawai domoi“, ab nach Hause! 14 Tage später die endgültige Rückkehr in die Alexandrowka Nr. 3. Der Hügel unterm Apfelbaum ist planiert. Gluschke erzählt seinem Freund Rudolf davon – und sie tun, was Jungen in dem Alter tun. „Wir haben nachgebuddelt“, erzählt er.

Der Schreck durchfährt sie fürchterlich. Die Jungs finden schwarze Textilien, die Fleisch und Knochen umhüllen, es riecht nach Verwesung. „Es war eindeutig eine Leiche“, sagt Gluschke. Ihr Gedanke: „Oh Gott, oh Gott, bloß nicht melden. Wir waren voller Angst.“ Ende 1945 kommt Gluschkes Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück. „Ich erkannte ihn nicht wieder.“ Der Junge erzählt seinem Vater von der Leiche. Dessen Antwort zunächst: „Ernstchen, du spinnst, das glaube ich nicht.“ Doch glauben heißt nicht wissen. Mit einem Spaten graben sie erneut nach, nur 30 Zentimeter unter der Grasnarbe finden sie den Leichnam. „Das Fußende nach Nordwest, Richtung Stadt der Kopf“. Gluschke: „Ich seh’ noch meinen Vater ganz bedrückt sagen: ,Lass uns das wieder zumachen und vergessen.’“

Gesprochen wurde von der Leiche aus der Alexandrowka Nr. 3 dann nicht mehr. Nach 1946 hat die Familie noch mehrmals russische Einquartierungen im Haus. „Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis“. Mehrmals kommen Leute vorbei und berichten, dass sie in dem kleinen Keller, den Gluschkes Vater als Luftschutzbunker gebaut hatte, vom russischen Geheimdienst gefangen gehalten wurden. Sie wurden verhört wegen „angeblicher oder tatsächlicher Nazi-Vergangenheit“, sagt Gluschke. Die Villa der Evangelischen Frauenhilfe in der Leistikowstraße 1 war erst nach der Potsdamer Konferenz im August 1945 durch den NKWD als Untersuchungsgefängnis in Beschlag genommen worden. Es entstand das „Militärstädtchen Nr. 7“, die „verbotene Stadt“, die Deutschlandzentrale des sowjetischen Geheimdienstes.

Zwischen Ende April und August 1945 werden in Potsdam aber noch „eine ganze Reihe von Villen und Kellern als provisorische Arrestzellen“ benutzt, sagt die Leiterin der heutigen Gedenkstätte Leistikowstraße, die Historikerin Ines Reich. Darunter, darauf verweist Gluschkes Bericht, war auch das Haus Alexandrowka Nr. 3. Die Zeit sei noch nicht systematisch erforscht, sagt Ines Reich.

Gegenüber Frank Duif und seiner Frau Monika bricht Ernst-Friedrich Gluschke erstmals sein Schweigen. Lange Jahre nach der Wende 1989 besucht er erstmals wieder sein Elternhaus. Duifs wohnen dort seit 1972, kaufen 1990 das alte Haus, errichtet im russisch-rustikalen Holzhausstil. Die Kolonie Alexandrowka wurde 1826/27 errichtet, die zwölf Sänger eines russischen Chores waren die ersten Bewohner. Jeweils der älteste Sohn übernahm seither das Haus für die nächste Generation. Frank Duif glaubt „erst überhaupt nicht an den Spuk“. Zu ihm habe Gluschke gesagt, dass es ein Russe sein könnte, der standrechtlich erschossen worden sei. Zu denken gibt ihm „die Intensität“, mit der Gluschke von dem Toten in seinem Garten spricht.

Na ja, und dann ist da noch die Tatsache, dass ihm die Stelle, die Gluschke ihm unterm Klarapfelbaum zeigte, schon vorher aufgefallen war. Es gibt da „eine kahle Stelle im Rasen“, etwas höher als die Umgebung, da wächst kein Gras, so oft der heute 70-Jährige auch neuen Rasensamen ausstreut. „Das ist wie eine offene Wunde“, sagt Duif – und lässt die Sache zunächst damit bewenden. „Der Rasenmäher geht da rüber, kein Problem.“ Und: „Ich bin da nicht so empfindlich, ich dachte, es ist ein Hirngespinst.“ Dass sein Haus 1945 „eine Art Kommandantur war“, das weiß er. Duif, ein freundlicher Mann, zeigt seinen Keller, Zugang von der Küche aus. Es geht steil herab. Auf den wenigen Quadratmetern steht heute die Heizungsanlage. Es gibt kein Fenster. „Da kann man schon jemanden erschießen“, sagt Duif, „das hört kein Mensch“. Blut habe er aber nicht gefunden, als er den Keller sanierte. Doch je mehr er darüber nachdenkt, umso wahrscheinlicher hält er es mittlerweile, dass unter seinem Apfelbaum tatsächlich eine Leiche begraben liegt. Monika Duif pflichtet ihrem Mann bei, an Gluschkes Bericht könnte etwas dran sein. „Alte Leute haben ein gutes Langzeitgedächtnis.“ Den Spaten angesetzt hat Duif nie, sagt er, schon aus Pietätsgründen: „Der soll ruhen.“

Juristisch allerdings wäre ebenfalls kein Gras über die Sache gewachsen. Professor Dr. Wolfgang Mitsch, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Potsdam, spricht von einem „interessanten Fall“. Mord verjähre nicht, ganz im Gegensatz zu Totschlag. Zur Zeit der Tat habe es zwar für Mord noch eine 20-jährige Verjährungsfrist gegeben. Doch durch spätere Gesetzesänderungen sei bewirkt worden, dass ein nach dem 8. Mai 1945 begangener Mord noch von der jetzigen Unverjährbarkeitsregel erfasst werden kann.

Der Rechtsexperte sagt weiter: „Wenn genügend Anhaltspunkte für einen Mordverdacht vorliegen, muss die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren einleiten. Dabei kann unter Umständen eine Exhumierung des Leichnams erforderlich sein.“ Auch nach mehr als 67 Jahren.

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