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Berlin: Das Geheimnis unter uns

Verwaiste Bahnhöfe, leere Tunnel: Ein Verein bietet Fahrten durch die unbekannte Berliner Verkehrswelt an

Mit dem schwarzen Knüppel in der Hand werden die Männer ganz still. Mit zusammengekniffenen Augen starren sie auf die endlos grauen Gleise, jagen ihren gelben Zug durch die dunkle Röhre, nähern sich dem U-Bahnhof „Joachimstaler Promenade“ – da passiert’s. „Oh, nein, anhalten!“, japst eine ältere Dame nervös auf, „du bist viel zu schnell!“ Zu spät. Die U-Bahn rollt am Bahnsteig vorbei.

170 Stationen befinden sich in der Stadt. Fast 1300 U-Bahn-Waggons schieben sich Tag und Nacht unter der Asphaltdecke entlang. Den U-Bahnhof „Joachimstaler Promenade“ allerdings und Stationen wie „Petersdom“ oder „Reinhardhausen“ gibt es nur in einem Seitentrakt des U-Bahnhofs Turmstraße in Moabit, dort werden die Fahrer geschult – aus einem nachgebauten Waggon starren sie auf einen Monitor. Anfahren, abbremsen, Nothalt. Zehn Stationen ist die fiktive U-Bahnstrecke lang. Und manchmal brennt auch ein Kiosk auf dem Bahnsteig, „Havarie“ nennt sich das dann.

Einer, der an diesem Oktoberabend den Gasknüppel hält, ist Wolfgang Zillmann, 63 Jahre alt, aus Mariendorf. Wenn der „Verkehrspolitische Informationsverein“ (VIV) einlädt, ist auch er dabei. Denn der Verein organisiert Monat für Monat Rundfahrten durch die geheimnisvolle Berliner Verkehrswelt. „Neulich durften wir mal einen BVG-Bus einparken“, sagt Zillmann, fröhlich lächelnd, „das ist echt schwierig, fast jeder hat die Hütchen umgefahren“. Am Steuer so einer U-Bahn zu sitzen und am Bahnsteig zu halten, ach, sagt er, „das ist lehrreich, aber fast ein Kinderspiel – so lange keiner auf die Gleise springt.“ Ein Kumpel habe neulich mal ein Flugzeug auf dem Bildschirm landen müssen, „da rollte plötzlich ein Tanklaster auf die Betonpiste – oh, der hat geschwitzt!“. Im wahren Leben ist Zillmann übrigens Bankkaufmann.

So begeistert reden sie alle, die an diesem Abend durch die Stadt rollen. Erst geht’s zum U-Bahn-Fahrertraining nach Moabit, dann kreuz und quer zu den Bahnhöfen Berlins. „Wir wollen den Leuten die Verkehrskonzepte der Stadt vor Ort zeigen“, sagt Alexander Kaczmarek, Vorsitzender des VIV und selbst bei der Deutschen Bahn beschäftigt. „Wir haben Freaks bei unseren Touren dabei, leidenschaftliche Pufferküsser, aber auch Touristen und absolute Laien“. Seine Touren nennen sich „Pleiten, Pech und Pannen – Eine verkehrspolitische Rundfahrt zu den Pleiten der Berliner Verkehrspolitik“, „Gleise – vergessene Orte“ oder auch „Die geheimen Welten des Flughafens Tempelhof“.

Weiter geht’s an diesem Abend, die Treppe runter, die Treppe rauf, ein Türschloss klackt – und schon stehen die 50 Teilnehmer auf dem oberen Bahnsteig an der Turmstraße. Errichtet wurde der Rohbau 1960 über den Gleisen der U 9 und sollte später angeschlossen werden an die U5, die östlich in Richtung Alexanderplatz weiterführen sollte via Hauptbahnhof und Brandenburger Tor (wo nächsten Herbst der Stummel der U 55 freigegeben wird) – und westlich gen Jungfernheide führen sollte. Auch dort wurden bereits Vorarbeiten geleistet und zwei Bahnsteige übereinander gebaut, die derzeit von der U7 angefahren werden. Wann denn der U-Bahnhof Turmstraße angeschlossen werde? Pfff, lacht der mitreisende U-Bahnbauchef Uwe Kutscher, erst einmal wünsche er sich, dass der Weiterbau der U55 nach Alexanderplatz ab 2010 wirklich klappe.

Wieder rein in den Bus, wieder raus, die U-Bahn-Besucher staunen und müssen sich beim nächsten Halt knallgelbe Helme aufsetzen und orangefarbene Warnwesten überziehen. Fast sieht es aus wie früher bei der Loveparade. Die Leute tanzen aber nicht, sie laufen auf den derzeit stillgelegten Bahnhof Leopoldplatz der Linie U 9 und rollen in einem offenen Bauzug durch die stille, dunkle Röhre.

Fast 150 U-Bahn-Kilometer gibt es unter Berlin, das ist soweit wie bis nach Magdeburg. Selbst Vielfahrer staunen, wenn ihr Bauzug plötzlich in einen unbekannten Tunnel abbiegt, die Stammstrecke verlässt und mitten im dicht bebauten Wedding wieder an die frische Luft kommt. Hinter vielen Altbaufassaden, direkt an der Müllerstraße, versteckt die BVG eines ihrer größten Geheimnisse: Gleise liegen in einem großen Innenhof. Hier, im tiefen Wedding, von keiner Straße aus sichtbar, pflegt und repariert die BVG ihre Züge. 20 Gleise befinden sich dort, die Werkstatt ist der größte und unbekannteste U-Bahnhof der Stadt.

Staunend starren die alten Männer in die unbekannte Welt. Dann kommt der Hausherr, der Star des Abends – U-Bahnchef U-Bahnchef Hans-Christian Kaiser. Ein älterer Herr nimmt allen Mut zusammen und stupst den wuchtigen Herrn Kaiser an. „Sagen Se ma’“, flüstert er, „kann ick ooch mal richtig in ’ner U-Bahn vorn mitfahrn?“ – „Natürlich!“, flötet der U-Bahnchef. „Rufen Sie bei mir einfach an und sagen meiner Sekretärin, wir hätten das hier heute vereinbart – ganz einfach“. Manchmal kann der gewaltige U-Bahn-Apparat überraschend persönlich sein.

Der Verein und die Fahrten im Netz:

www.vivev.de

André Görke

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