zum Hauptinhalt

Berlin: „Das Herz von Berlin“

Die Göhrener Straße in Prenzlauer Berg hat nicht nur eine eigenartige Form. Die Bewohner schätzen auch die Ruhe mitten im aufgeregten Kiez

Manchmal denkt man nur noch an Flucht. So langweilig ist der Prenzlauer Berg zwischen Szenebars, Fresstempeln und Kinderwagengerangel. Allerdings gab es hier zu allen Zeiten auch immer das Phänomen der Nische. So wundert es kaum, dass parallel zum Helmholtzplatzhype, gleich um die Ecke, gerade eine solche entsteht.

In der Göhrener Straße, wegen ihrer halbrunden Form auch das Göhrener Ei genannt, haben sich in letzter Zeit immer mehr Handwerker und unaufgeregte Kreative niedergelassen. Belebt, aber nicht zu belebt sei es hier, meint Thomas Wolters, den es vor anderthalb Jahren vom Kollwitzplatz herzog. Die extrem schnelllebige Kundschaft dort ging ihm „total auf den Keks“. „In dieser Straße wohnen die Leute länger, die soziale Mischung ist ausgewogener“, meint Wolters. Hier hat der Möbelrestaurator auch mal Ruhe für ein edleres Stück, ohne „dass alle fünf Minuten jemand reinschneit, der sich mit seiner neuen Wohngegend bekannt machen will.“

Die Häuser mit den großen Balkonen wurden um 1906 gebaut, in den Hausfluren gab es wunderschöne Jugendstilfenster, von denen die meisten den Krieg nicht überlebten. „Es waren die ersten Wohnungen im Viertel mit Innentoiletten, und die Straße war voller Geschäfte“, sagt Ingrid Volz, die seit ihrer Geburt 1938 in der gleichen Wohnung wohnt und deren Mutter ebenfalls hier aufwuchs. Autos gab es keine, in der Mitte der Straße, wo heute der Kinderspielplatz ist, sprudelte ein riesiger Brunnen. Im Krieg wurde er zu einem Feuerlöschteich und später zugeschüttet.

„Das Göhrener Ei war schon immer was Besseres“, meint die ehemalige Historikerin, „hier wohnten die Kleinbürger, während dahinter an der Dunckerstraße die Arbeiterghettos mit den unzähligen Hinterhöfen, Scheunen und Außenklos anfingen.“ Die Mutter spielte als Kind vorm Haus noch auf der grünen Wiese, als Ingrid klein war, ging sie zum Bauern in die Lettestraße und kaufte dort Kuhmilch. Zu DDR-Zeiten wurde Privatiers das Leben schwer gemacht, und nach der Wende waren die meisten Läden im Göhrener Ei längst zu Erdgeschosswohnungen umgebaut. Seit ein paar Jahren nun der neue Trend, Geschäfte und Leben. „Angefangen hat es mit ein paar Galerien“, meint Wladimir Prib, der seit 1997 eine Mal- und Tanzschule in der Göhrener Straße 14a betreibt, „aber die haben sich alle nicht lange gehalten, für Kunst gibt es hier keine Käufer, zu viele elternfinanzierte Studenten und junge Familien, die zu konservativ sind.“ Von Letzteren allerdings profitiert er. Seine Kurse sind gut besucht, die Altersgrenze hat er von acht auf drei Jahre heruntergeschraubt. Auch die Eliasgemeinde kann über mangelnden Zulauf nicht klagen, bis zu drei Jahren beträgt die Wartezeit auf einen Kindergartenplatz. Ihre Kirche, am Ausgang der Straße, haben sie an ein Kindermuseum vermietet. Der rote Backsteinbau der Gemeinde schloss 1927 die letzte Baulücke im Göhrener Ei.

„Belebt, aber nicht zu belebt“ sei die Straße, sagt Kathrin Bräuer vom Siebdruckatelier in der Göhrener Straße 4. Sie bekam die Räume über eine Förderung des Projektes „Werk-Art“, welches vielen Kreativen in den vergangenen zwei Jahren zu einer Existenz rund um den Helmholtzplatz verhalf. Seit einem Jahr ist sie wie viele hier „frisch unterwegs“, meint Kathrin Bräuer. Stoffe, Glas, Gummi, Leder, sie bedruckt „alles, was sich so bedrucken lässt“, aber vor allem Prototypen für Modedesigner. Mittlerweile gibt es eine gute Zusammenarbeit mit der Nachbarin Heike Haase, die in ihrem Laden über eine einmalige Auswahl an Industriefilzen verfügt, aber auch Handfilzkurse anbietet. „Ich bin vor fast einem Jahr in den Laden gezogen“, sagt sie, „für mich war das ideal, ich wohnte ja seit acht Jahren schräg gegenüber.“ Dicke Rollen von Woll- und Nadelfilz in allen Farben stehen im Laden, davor ein riesiger, von Hand gezimmerter Tisch. „Filz ist ein sehr vielseitiges Material, man kann es bedrucken, da machen die Leute Taschen, Yogamatten oder Schallisolierungen für Studios draus. Aber vor allem kommen junge Designer hier vorbei. Da haben wir schon ein richtiges kleines Netzwerk aufgebaut, vermitteln uns gegenseitig die Kunden, feiern auch mal zusammen.“

Auch den Verlegern scheint das Göhrener Ei zu gefallen. Kürzlich zog neben den Matthes & Seitz Verlag in der Sieben noch der Dittrich Verlag in die Zwei, gleich um die Ecke hat sich der Tropenverlag seit einiger Zeit niedergelassen.

Bewohner und Hausbesitzer sind sich einig: Kneipen soll es hier nicht mehr geben. Stattdessen wünschen sie sich eine verkehrsberuhigte Zone, ein Bürgerbegehren gibt es bereits. Heike Haase meint: „Das Göhrener Ei ist für mich das Herz von Berlin, mittendrin, lebendig und wohltemperiert.“

Dolores Kummer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false