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Berlin: „Das ist sehr berührend“

Um 12 Uhr stand die Stadt für eine Minute still und gedachte der Maueropfer In Kaufhäusern, Kirchen, Bussen und Bahnen wurden die Menschen zum Innehalten aufgefordert

Schon kurz vor 12 Uhr kehrt Ruhe ein über der Bernauer Straße zwischen Mitte und Wedding. Menschen falten auf der zentralen Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag des Mauerbaus die Hände, schließen die Augen oder schauen nachdenklich auf das Areal des einstigen Todesstreifens. Länger als eine Minute dauert dieses Schweigen, dann dröhnen um 12 Uhr die Glocken der Versöhnungskirche wie ein Zeichen für die nun beginnende stadtweite Schweigeminute – das Innehalten Berlins zu Ehren der Opfer der Berliner Mauer. Das Gotteshaus an der Bernauer Straße war zu DDR-Zeiten gesprengt worden, jetzt hängen die Glocken in einem improvisiert wirkenden Holzbau. Entlang des alten Mauerverlaufs drängeln sich Tausende Besucher aus Berlin und aller Welt und versuchen, einen Blick auf die Veranstaltung mit Merkel, Wowereit & Co. zu erheischen.

„Das ist sehr berührend“, sagen die Geschwister Nina und Tim Walther, die für einen Berlin-Urlaub aus Essen angereist sind. Neben ihnen wischt sich jemand eine Träne aus dem Auge. Und Etienne Jollet, Kunsthistoriker aus Paris, sagt: „Dies ist ein Ort, an dem Werte wie Hoffnung, Frieden, Menschlichkeit noch eine Bedeutung haben.“lvt

ALLE BUSSE HALTEN AN

Betriebsleiter Werner Striepling sitzt seit sechs Uhr in der Leitstelle Omnibus der BVG. Es ist alles gut vorbereitet. Punkt zwölf Uhr sollen alle in Berlin eingesetzten Busse eine Minute lang still stehen, und das sind immerhin gut 800. Nebenan verfolgt Infomanager Axel Westphal die vielen kleinen grünen Pfeile auf seinem Bildschirm. Jeder Pfeil steht für einen Bus, und wenn alles klappt, ist gleich Ruhe auf dem Bildschirm. Um 11.59 Uhr sagt Westphal: „Dann legen wir mal los.“ Über einen Telefonhörer spricht er seine Ansage, sie ist jetzt in allen Bussen zu hören: „Sehr geehrte Damen und Herren, die BVG hält gemeinsam mit der Stadt Berlin um 12 Uhr im Gedenken an den Mauerbau vor 50 Jahren und seine Opfer inne.“ Blick zur Seite: Alle Pfeile stehen still. „Hat geklappt“, sagt Westphal. gol

CHECKPOINT OHNE FOTOKLICKEN

Touristen wuseln am Checkpoint Charlie umher. Kameras klicken, aber Punkt 12 Uhr stoppen dann sogar die Sightseeing-Busse demonstrativ. Berliner Passanten nehmen die Finger vor den Mund und bitten eine Japanergruppe, doch kurz still zu sein. Etliche fremdsprachige Besucher haben den Anlass noch gar nicht so recht verstanden, aber sie spüren den besonderen Moment. Eine Minute keine Fotos, kein Handy am Ohr. Auf einer Videoleinwand vor dem Checkpoint-Charlie-Museum steht: „Wir trauern um die Getöteten des DDR-Grenzregimes“. Das Museum hat zum Jahrestag noch einmal für die Maueropfer alle 50 Holzkreuze mitten auf die Friedrichstraße gestellt, die es vor ein paar Jahren von einem Nachbargrundstück entfernen musste. cs

ÜBERRASCHUNG IN DER U-BAHN

Um kurz vor zwölf stehen die Räder der U-Bahnlinie 12 am Wittenbergplatz still. Eine Durchsage weist die Fahrgäste auf den Anlass hin. „Der Mauerbau ist heute ja auch überall“, sagt eine Frau zu ihrem Nachbarn. Manche sind überrascht, einige unterbrechen kurz ihre Unterhaltung, andere ignorieren das Gedenken. Die Schweigeminute wirkt eher wie eine kurze Fahrtunterbrechung. ses

KEINE RUHE AM POTSDAMER PLATZ

Auch die S-Bahn stoppt ihre Züge für eine Minute an allen Bahnhöfen und macht Durchsagen. Was den Fahrgästen der haltenden Bahn zu sagen ist, steht am Potsdamer Platz auf dem Zettel der Zugabfertigerin, in Deutsch und Englisch, schließlich wimmelt es dort nur so von Touristen. Doch der Zug fährt erst eine Minute nach zwölf ein, und so kommt der Zettel mit der Gedenkdurchsage doch nicht zum Einsatz. Der Potsdamer Platz ist wohl nicht der rechte Ort fürs Schweigen. Weder unten auf den Bahnsteigen noch oben ist von der Gedenkminute viel zu spüren. Auch in den Arkaden ist selbst nach einer Durchsage zumindest für den Verkäufer eines Stehcafés im Untergeschoss nichts erkennbar: „Alles wie sonst.“ Aber möglicherweise haben die Menschen ja doch für sich der Maueropfer gedacht, vermutete die junge Frau in der Info-Box. Unterm Sony-Zeltdach müssen die Menschen ohne Durchsage auskommen, das Leben geht wie gewohnt weiter. ac

GONG IM KADEWE

Kurz vor zwölf hört man im KaDeWe am Wittenbergplatz eine ungewöhnliche Durchsage: „Liebe Kunden! Bitte halten Sie nach dem Gong eine Minute inne, um der Opfer der innerdeutschen Grenze zu gedenken.“ Manche ausländischen Besucher unterhalten sich weiter laut, sie haben das Anliegen nicht so recht verstanden. Doch etliche Berliner und Verkäufen senken die Blicke. Im KaDeWe war es selten so leise. CS

LANGE MINUTE IM M29

Für den Bus M29 ist um 12 Uhr am U-Bahnhof Moritzplatz in Kreuzberg die Fahrt auf der Busspur unterbrochen. Die Durchsage zur Schweigeminute wird per Funk übertragen. Ein türkischer Fahrgast ärgert sich: „Die Akustik ist schlecht, ich habe nichts verstanden.“ Im Bus wird es trotzdem ruhig. Gisela Weller wusste schon vorher, was gleich passieren wird. Während des Schweigens denkt die 66-Jährige daran, wie sie einst die nervigen Grenzkontrollen passiert hat und wundert sich: „Ich hätte gar nicht gedacht, dass eine Minute so lang ist.“ lir

GLOCKEN ÜBER CHARLOTTENBURG

Das Geläut ist weit über den Stadtring zu hören. Auch in der Epiphanienkirche in Charlottenburg schlagen alle Glocken. Rund 25 Gläubige sind zur Andacht versammelt. Pfarrer Steffen Reiche sagt: „Mit jedem Glockenschlag erinnern wir an den Tod von Unschuldigen.“ Reiche, nach der Wende SPD-Kulturminister in Brandenburg, spricht über das DDR-Regime, die Mauertoten, aber auch über die Rolle der Kirche bei der Revolution 1989. „Wir haben gelernt, mit Gott über Mauern zu springen. “bbs

MEDITIEREN IM MAUERPARK

Während in Berlin vielerorts Stille einkehrt, wird im Mauerpark gekaut, gejoggt und gekickt. Das Leben nimmt seinen gewohnten Lauf. Thomas Gründel ist mit Frau und Kind unterwegs. Die beiden waren auch bei der Gedenkstätte, „aber eine gemeinsame Feier sieht für mich anders aus“, sagt er. Die Politprominenz habe sich nicht sonderlich unter die Leute gemischt. Schweigend sitzt unterdessen auf dem Hang eine junge Frau im Schneidersitz. Ihre Handrücken liegen auf den Knien – sie meditiert. Auch eine Art, der Berliner Teilung zu gedenken. kno

INNEHALTEN IN POTSDAM

Rund 200 Potsdamer gedenken mit einem Gottesdienst und einer Schweigeminute am Alten Markt der Opfer. Auch Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) ist dabei. Es ist das einzige Innehalten in der Landeshauptstadt. Busse und Trams fahren weiter. „Vielleicht haben wir nicht intensiv genug geworben“, sagt Jakobs. Sein Büroleiter hatte zuvor erklärte, es gebe keinen Anlass, sich an der „Kollektivschweigeminute“ zu beteiligen. Mehrere Veranstaltungen zum Gedenken gab es dagegen entlang des Mauerverlaufs in der Region Potsdam – so an der Glienicker Brücke oder in Steinstücken.jab

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