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Mit seinen Ansichten ist man in Berlin niemals alleine. Man findet immer Gleichgesinnte, meint unser Autor.

© Max Deibert

Das Paradies der Individualisten: Wir sind alle hirnlose Phonies

Weltverbesserer, Klassengesellschaftsnörgler und Indie-Fotoblogs. In Berlin findet man Gleichgesinnte, egal wie man tickt.

Holden Caulfield, der Protagonist aus „Der Fänger im Roggen“, hatte ja so recht, als er meinte, wir seien allesamt „Phonies“. Dieses Wort gibt es nur im Englischen, wie schade. Es beschreibt eine verlogene Person, die bestimmte Überzeugungen beziehungsweise Handlungen nur verfolgt, weil sie an deren positiver Wirkung für sich selbst interessiert ist, nicht aus moralischen oder weltanschaulichen Gründen. Die Beschreibung klingt sehr gestelzt, aber ich bin auch kein Übersetzer.

Wir Berliner erkennen unsere Phonies sofort, wenn wir sie sehen. In der U-Bahn, wenn sie mit dem iPhone (die Verwandtschaft der beiden Worte ist verblüffend, oder?) in der Hosentasche einer Gruppe Mädchen in Stoffschuhen von Nanu Nana Vorträge über Umweltverschmutzung und Walsterben halten, die darauf mit Aufschreien der Empörung und vereinzelten Tränen reagieren. Wenn sie bei Facebook Sätze wie „jeder Mensch ist schön“ über ein Foto klatschen, das ein tieferes Dekolleté preisgibt, als jemals nötig gewesen wäre. Wenn sie Punkklamotten tragen und nörgeln, dass diese Klassengesellschaft sie „üüüber anpisst“, obwohl jeder weiß, dass ihre Väter im Vorstand von Haribo oder Nestlé sitzen. Wenn sie klugscheißerische Artikel für einen wahnsinnig individuellen Jugendblog verfassen und sich einbilden, nicht zu der Gruppe zu gehören, die sie verurteilen.

Und genau das liebe ich an Berlinern! Wir sind alle hirnlose Phonies, egal, was wir machen. Man kann diesem Vorwurf nicht entkommen - muss man aber auch nicht. Wer in Berlin homosexuell ist, findet schnell Gleichgesinnte und kann gemeinsam mit ihnen über die Arroganz blonder, vollbusiger Mädchen ablästern, ohne als „the only gay in the village“ mit seiner Meinung in Exilverhältnissen leben zu müssen. Wer mit seiner Spiegelreflexkamera gerne Brücken bei Vollmond fotografiert, kann das machen und wird mit seinem Indie-Blog möglicherweise eine breite Fan-Base gewinnen. Dass die Gruppe der Zyniker und Kitsch-Hasser ihm Verlogenheit vorwirft, braucht den Phonie nicht zu stören.

Falls du also der Meinung bist, dein alltägliches Leben werde überschattet durch die Menge an verlogenen politischen oder modischen Statements im Internet und auf der Straße, brauchst du dir keine Sorgen zu machen. In Berlin wirst du sicherlich Gleichgesinnte finden, die genauso  verlogene, abgedroschene, vorhersehbare Gedanken haben wie du.

Das ist ein Beitrag unseres neuen Jugendmagazins "Der Schreiberling". Folgt uns doch auf Facebook unter www.facebook.de/Schreiberlingberlin

Max Deibert

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