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Berlin: Das Stelenfeld als Spielplatz

Am Holocaust-Mahnmal machen sich seltsame Sitten breit – sie entsprechen kaum der „Besucherordnung“

Der Mann nimmt das kleine Mädchen, stellt es auf eine Stele, sagt ihm, es solle die Füße nebeneinander stellen und „grüßen“. Das Kind hebt die linke Hand an die Stirn, salutiert wie ein Soldat. Sein Vater lacht, dann macht er ein Foto. Seine Mutter liest derweil im Faltblatt mit den Informationen zum „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“.

Die Leute wissen also, wo sie sind – an dem Stelenfeld mitten in Berlin, das in der vergangenen Woche eröffnet wurde und die Erinnerung an den Holocaust wach halten soll. Am Pfingstwochenende ist es von Besuchern geradezu überlaufen. Es wird besetzt und bespielt.

Die flachen Betonstelen an den Seiten dienen müden Betrachtern als Sitzbänke. Ein junger Mann macht seine Begleiterin auf die Betonquadrate am Rand des Feldes aufmerksam, die in den Boden eingelassen sind. Das Feld gehe in seine Umgebung über, sagt er. Dass die höheren Betonquader in der Nähe zur Entspannung und Erholung genutzt werden, erscheint ihm plausibel: „Das ist ja wahrscheinlich das Konzept, dass die Leute das für sich in Beschlag nehmen“, meint er.

An den vier Ecken des Stelenfeldes finden sich Hinweise darauf, wie das geschehen soll. Fünfzig mal fünfzig Zentimeter groß sind die schwarzen Platten und in den Boden eingelassen. Leute beugen sich darüber, um die „Besucherordnung“ zu lesen, manche fotografieren sie mit Digitalkameras. Nur zu Fuß und im Schritt-Tempo solle man sich auf dem Stelenfeld bewegen, man tue dies „auf eigene Gefahr“, steht dort. Dann folgt, was – theoretisch – „nicht gestattet“ ist: Man darf zwischen und auf den grauen Betonquadern nicht lärmen oder laut rufen. Man darf nicht musizieren oder Musik hören. Man darf auf den Stelen nicht „lagern“, man darf nicht auf sie hinaufklettern. Es ist auch nicht gestattet, „von Stele zu Stele zu springen und sich in Badebekleidung auf einer Stele zu sonnen.“ Hunde sind zwischen den 2711 Betonelementen nicht erwünscht, auch Fahrräder, Skateboards, Rollerblades und Rollschuhe nicht. Die Liste nicht gestatteter Tätigkeiten endet damit, dass auch das Rauchen, der Genuss alkoholischer Getränke und das Grillen nicht gestattet sind.

Zehn Minuten zwischen den Betonstelen machen deutlich, dass nichts auf dieser Liste der unerwünschten Tätigkeiten überflüssig oder absurd ist. Noch am wenigsten überraschen die sechs oder sieben Jahre alten Jungs, die zwischen den hohen Stelen Fangen spielen. Erwachsene spielen nicht Fangen, aber sie verstecken sich hinter einem hohen Quader und erschrecken ihre Begleiter. Das Stelenlabyrinth als Spielplatz – man hört Leute lachen, man hört auch schnaufende Geräusche wie aus dem Sportunterricht. Denn Stelen jeder Höhe reizen vor allem junge Besucher zum Herumlaufen und Springen. Vom Rand bis in die Mitte mögen zwanzig, dreißig Sprünge nötig sein. Zwei Wachmänner einer Sicherheitsfirma sollen darauf achten, dass die Leute sich an die Besucherordnung halten. Aber was erreichen zwei Männer, wenn Hunderte auf den Stelen sitzen und stehen und immer Dutzende zugleich auf die Idee kommen, von einem Quader zum nächsten zu springen? Immer wieder sprechen sie jugendliche Springer an. Die meisten reagieren sofort und machen sich springend auf den Rückweg von den hohen zu den flachen Stelen. Auf anderes könne man gar nicht achten, sagt einer der Wachmänner. Seit zu lesen war, dass Architekt Peter Eisenman es gut finde, wenn sich die Besucher das Mahnmal aneigneten, bleibt ihm nicht mehr viel außer einem Schulterzucken angesichts der ahnungslosen Eroberung des Stelenfeldes. Ein Mädchen fragt eine Frau: „Ist jetzt ein Stein ein Jude?“ Die Frau sagt, das könne nicht sein. Ein Paar nutzt eine halbhohe Stele für innige Küsse. Einige Leute überblicken das Quaderfeld und machen halblaute Bemerkungen – eine Frau sagt angesichts der lagernden, springenden Besucherscharen etwas von „fehlender Sensibilität“.

Zwei junge Frauen bemerken den Notausgang mitten im Stelenfeld. „Wofür Notausgang“, fragt die eine. „Du weißt doch“, sagt ihre Begleiterin, „unter dem Ding hier ist so eine Informationsstätte.“

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