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Berlin: Das vertonte Leben, nächster Teil

Genie allein reicht nicht. Die andere Hälfte des Künstlers muss aus Disziplin bestehen, sonst würde er den Erfordernissen an Einsamkeit und Selbstmotivation kaum standhalten.

Genie allein reicht nicht. Die andere Hälfte des Künstlers muss aus Disziplin bestehen, sonst würde er den Erfordernissen an Einsamkeit und Selbstmotivation kaum standhalten. Disziplin wächst am besten in festen Abläufen. Im Falle von Reinhard Mey heißt das in jedem zweiten Jahr, wenn der Frühling aufdämmert, Rückzug ins Plattenstudio am Potsdamer Platz zwecks Aufnahme einer neuen CD. Dann folgt das Biennale-Ritual, das treue Fans schon kennen: Im Mai erscheint das Album, der Sänger zieht sich zu lang aufgeschobenen Aufräumarbeiten in den heimischen Keller zurück, kurz darauf beginnt der Vorverkauf für die Tournee, und wer beim Berliner Abschlusskonzert im November dabei sein will, sichert sich beizeiten die Tickets, denn in aller Regel sind sie blitzschnell ausverkauft.

Soweit ist es aber noch nicht. In diesen Tagen findet gerade mal der Feinschliff statt an dem neuen Album "Einhandsegler", mit allen Adrenalinschüben, die so dazu gehören. Eigentlich hat der Liedermacher, wie er sich konsequent nennt, nach jeder abgeschlossenen CD das Gefühl: Das schaffst Du nie wieder. So war das auch vor zwei Jahren, als die "Flaschenpost" auf den Weg gebracht war. Aber die Musen müssen sich noch reichlich tummeln auf dem heimischen Dachboden in Frohnau. Denn Probleme entstanden bei der neuen Produktion nicht durch einen Mangel an Einfällen, sondern durch deren Überfluss.

74 Minuten passen normalerweise auf eine CD. 75,55 Minuten waren aber schon aufgenommen. Was tun? Zeilen streichen? Strophen kürzen? Schneller spielen? Alles nicht drin. Die Platte war schon so ausgefeilt. Schließlich hat man doch eine Lösung gefunden, die es technisch möglich macht, den gesamten Stoff auf eine CD zu pressen. Nach einigen weiteren minderen Katastrophen ist die Stimmung in der letzten Phase der Aufnahme gelöst. Soll man in dem Refrain von "Heimatlos" das leise, kaum vernehmbare Echo lassen oder herausnehmen? Fehlt in dem Stück "Wenn ich betrunken bin" noch eine Note am Schluss oder nicht? Soll ein Trompetensolo eher nach Feuerwehrkapelle klingen oder gerade und schlicht? Ist "Das wahre Leben", der Song über die Todesanzeigen, die er in dieser Zeitung gelesen hat, schon gut so, oder müsste man noch was ändern? Es gibt Momente, in denen Sänger und Ton-Crew einfach ihren Beruf genießen, zum Beispiel bei der Oboen-Aufnahme des Philharmonikers Albrecht Mayer: "Da haben wir nur gelauscht und gedacht, was für ein bevorzugtes Leben wir doch führen."

Die Crew ist gegen Ende ziemlich zufrieden: "Das geht höchstens noch um Fliegenbeine." Ist die Studio-Zeit einmal abgelaufen, bleibt alles so, wie es ist. Dann packt Manni Leuchter am nächsten Morgen seine Sachen und fliegt nach Los Angeles, um in einem Spezialstudio der Platte den letzten Pfiff zu geben.

In den letzten Diskussionen gibt es Momente, in denen der Roboterhund Sumo auf "Pause" geschaltet wird. Er war diesmal als Maskottchen dabei, auch als Inspirationsquelle, wie Alex und Jonas bestätigen, die als Tonmeister zum Team gehören. Seinem Besitzer selbst hat er vor allem beigebracht, dass ein richtiger Hund ihn wahrscheinlich überfordern würde: "Die Pausetaste ist doch ganz wichtig." Was nichts mit mangelnder Tierliebe zu tun hat, sondern eher mit einem großen Bewusstsein für das Ausmaß an Fürsorge, die so ein Hund nötig hat. Das Herz für Tiere zeigt Reinhard Mey auf seinen Alben eigentlich immer, diesmal in dem Song "Der Marder".

"Der Marder ist immer der Gärtner", flachsen die Tonmeister. Während sie um die allerletzten Feinheiten ringen, kommen Reinhard Mey schon wieder Gedanken für die nächste CD. Vielleicht etwas übers Eiskunstlaufen? Er zieht ein Sonnett von Shakespeare aus der Tasche "How can my muse want subject to invent...", das wäre in eigener Übersetzung vielleicht eine Ode an Frau Hella wert. An die geht ein poetischer Dank auch auf dem "Einhandsegler": "für das Boot, den Ozean und den Hafen."

Den "Küchentest" hat die Platte jedenfalls bestanden. In der Küche in seinem Haus in Frohnau hat Reinhard Mey nämlich ein altes Autoradio inklusive CD-Player eingebaut. Songs, die bei dieser Akustik bestehen, die der im Studio am Potsdamer Platz natürlich weit hinterherhinkt, haben eine Chance, ohne Zusatznoten oder wegfallende Echos in die Endaufnahme zu kommen.

Trotzdem sind auch diesmal, wie fast jedes Mal, Lieder übrig geblieben. Manchmal ist so ein Lied live beim Konzert zu hören. Eine Chance, aufs nächste Album zu kommen, haben die ausgelassenen Songs in der Regel nicht, "denn das ist dann ein ganz anderer Liederbogen." So gibt es für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich die Einfälle tatsächlich mal rar machen, aus all den Jahren eine Sammlung von unveröffentlichten Liedern, die eine eigene Platte ergeben könnten, gewissermaßen als Fußnote zum vertonten Leben des Reinhard Mey. Der Song vom "Autogrüßen" gehört dazu, der eine kleine Besonderheit aus dem Alltag behandelt, die jeder kennt, der (manchmal zu Unrecht) in einem Auto, dem er freundlich zuwinkt, einen vertrauten Bekannten vermutet. Die Saatkörner fürs nächste Album sammelt er in seinem Laptop. Besichtigung ist aber nur von weitem gestattet. Nicht mal Frau Hella darf das lesen.

Die Familie hat diesmal nicht mitgewirkt, obwohl sie zur Endabnahme im Studio erwartet wird. Die Vorzeichen stehen gut. Sogar Manni Leuchter sieht ganz glücklich aus. Der ist Musiker, Dirigent, Produzent, Arrangeur, außerdem selbst sein ärgster Kritiker, und er hat in seinem Studio in Aachen zwei Monate vorbereitend gearbeitet, bevor sich die vertraute Truppe wieder am Potsdamer Platz traf. Wenn am 8. Mai die Platte erschienen ist, beginnt der Einsatz von Freund Peter. Der bereitet die Tournee vor, die am 20. September startet und am 17. November im ICC endet. Alles hat ein festes Gerüst.

Vielleicht sind deshalb die Gedanken so frei, dass vor dem Endspurt die Einfälle angeflogen kommen wie Frühlingsschwalben.

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