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Dolle Truppe. Die Klasse von 1993 im Finale gegen Leverkusen mit den Schmidts, mit Calle Ramelow, Christian Fiedler, Sven Meyer ....

© Imago

Das Wunder der Amateure von 1993: Ja, Berlin kann auch Pokalwunder

Wie klappt die Sensation im DFB-Pokal? Das weiß in Berlin einer ganz genau: Jochem Ziegert, Ex-Trainer der „Hertha-Bubis“ von 1993. Ein Besuch.

Camillo ist tot. Einfach umgekippt, vor zwei Jahren schon, „unglaublich“, sagt Jochem Ziegert, „ausgerechnet Camillo, der war doch immer das blühende Leben, immer total aufgedreht. Nur vom Fußball hatte er keine Ahnung.“ Das hat den Gastwirt Camillo Mamoghli nicht davor bewahrt, zum Propheten einer der größten Erfolgsgeschichten des deutschen Fußballs zu werden.

Im Frühjahr 1993, als die zweite Mannschaft von Hertha BSC beinahe den DFB-Pokal gewonnen hätte. Der jüngste war 18 und der älteste 23. Herthas zweite Mannschaft trug damals offiziell den Namen Hertha BSC Amateure, aber der Volksmund hatte schnell einen eigenen Namen kreiert. Vor 23 Jahren verliebte sich Berlin in die Hertha-Bubis.

Berlin war verliebt in die Bubis

Jochem Ziegert war ihr Trainer und Camillo Mamoghli der Mann, der auf dem Weg ins Endspiel alle Ergebnisse voraussagte. Nicht obwohl, sondern gerade weil er nichts vom Fußball verstand. Wer sonst hätte schon auf diese Siegesserie der drittklassigen Reservemannschaft eines Zweitligisten gesetzt?

Hertha BSC hat es sonst nicht so mit dem Pokal. Die Profis verabschieden sich für gewöhnlich schon in der ersten oder zweiten Runde. Deswegen ist ja halb Berlin in diesen Tagen so aufgeregt (die andere Hälfte interessiert sich nicht für Fußball).

Sein Chef war bis vor kurzem Pal Dardai

Am Mittwoch spielt Herthas Bundesligamannschaft gegen Borussia Dortmund und würde im Fall eines Sieges ins Finale einziehen. Das wäre ein schöner Erfolg, aber kein einmaliger. Alles schon mal dagewesen, „aber das weiß ja kaum noch jemand mehr“, sagt Jochem Ziegert, „nicht mal mehr meine Spieler“.

Auch Ziegert wird am Mittwoch als Zuschauer im Olympiastadion dabei sein. Er betreut zurzeit als Assistenztrainer Herthas Schülermannschaft, sein Chef war bis zum Februar vergangenen Jahres Pal Dardai. Der Mann, der am Mittwoch die Profis ins Endspiel führen will. „Pal hat den Jungs mal erzählt: ‚Der Herr Ziegert war schon da, wo ihr alle mal hin wollt!‘ Na, die haben ganz schön geguckt!“

Jochem Ziegert ist 61 Jahre alt, das früher feuerrote Haar leicht ergraut, aber wenn er von früher erzählt, wirkt sein Lachen immer noch bubihaft leicht. Der DFB-Pokal hat ihn in ganz Deutschland bekannt und zum Besitzer eines Oldtimers gemacht, aber dazu später mehr. Heute arbeitet Ziegert in der Finanzverwaltung am Fehrbelliner Platz, für das Gespräch über die Bubis hat er sich von seiner Chefin eine XXL-Mittagspause genehmigen lassen. Dass er im Sommer 1992 als Chef die Amateure übernommen hat, ist einem Zufall geschuldet. Der vormalige Trainer Karsten Heine muss bei den Profis aushelfen, also springt Ziegert ein. Und die Geschichte nimmt ihren Lauf.

Sie nannten ihren Sportplatz Anfield Road

Im Frühjahr 2016 trainieren Ziegerts Schüler zweimal täglich unter perfekten Bedingungen auf dem Olympiagelände. In den frühen neunziger Jahren aber ist Fußball noch ein anderes Spiel und Hertha BSC ein anderer Verein. Die Amateure vagabundieren kreuz und quer durch die alte Heimat im Wedding. Mal üben sie auf einer Wiese im Schillerpark, „da mussten wir die Tore immer selbst aufbauen“, sagt Ziegert. Öfter scheucht er seine Spieler auch über den Kunstrasen an der Ramlerstraße oder jenen an der Behmstraße, der den einladenden Namen Kokswiese trägt. Nur zu den Punktspielen dürfen sie auf den Naturrasen an der Osloer Straße. Die Spieler nennen ihn Anfield Road, kleine Anspielung auf das legendäre Stadion des FC Liverpool. „Der Platz war so holprig, dass kein Gegner damit klargekommen ist“, sagt Ziegert. „Wir waren da kaum zu schlagen.“

Erst VfL Leipzig, dann Hannover, Nürnberg ...

An der Weddinger Anfield Road schreiben die Bubis dann auch die ersten Verse ihres Märchens im DFB-Pokal. Zu Gast ist der badische Verbandsligist SG Kirchheim, über Berlin hinaus interessiert sich kaum jemand für Herthas 3:0-Sieg. Danach kommt der Zweitligist VfB Leipzig an die Osloer Straße, angeführt vom früheren Hertha-Trainer Jürgen Sundermann, der erst mal fragt: „Wo ist denn hier der Hauptplatz?“ Den 4:2-Sieg feiert Hertha ein paar Ecken weiter in der Pizzeria San Remo, wo der Wirt Camillo Mamoghli beiläufig erwähnt, dass er genau dieses Ergebnis vorausgesagt habe. „Wollte natürlich keiner glauben“, sagt Ziegert, aber Camillo hat seinen Tipp in die Registrierkasse eingegeben und präsentiert den Beleg mit Datum und Uhrzeit. So hält er es von jetzt an bis zum Finale. Das ist zwar noch weit weg und spukt doch durch den Kopf von Jochem Ziegert, seitdem er auf der Tankstelle von Herthas Amateur-Chef Jörg Thomas den Roadster TR6 von Triumph entdeckt hat, sein Traumauto seit Jugendtagen. Thomas entgegnet: „Komm du mal ins Finale, dann schenke ich dir den Wagen!“

Party? Ging nicht, sie machten ja Abitur

Zum Achtelfinale zieht Hertha ins Mommsenstadion um. 7000 Zuschauer feiern, was Camillo längst weiß, nämlich ein 4:3 gegen den Pokalverteidiger Hannover 96. Dramatisch wird es im nächsten Spiel, wieder im Mommsenstadion, diesmal vor 14.000 Zuschauern gegen den 1. FC Nürnberg. Ziegert sagt, das sei seine schönste Erinnerung an die Pokaltournee. „Wir führen bis kurz vor Schluss 1:0 und bekommen dann den Ausgleich. Die Spieler sind mausetot, und ich weiß genau: Wenn wir in die Verlängerung müssen, dann machen die Nürnberger uns alle.“ Er will die Mannschaft nach vorn brüllen, alles auf einen letzten Angriff setzen, „aber es war ohrenbetäubend laut, keiner hat mich verstanden.“ Es klappt dann auch so mit dem Siegtor und alle im Stadion drehen durch, bis auf Camillo, aber das hatten wir ja schon.

Der Alte und das Buch. Ziegert, 2016, mit einem Erinnerungsstück.
Der Alte und das Buch. Ziegert, 2016, mit einem Erinnerungsstück.

© Sven Goldmann

Herthas erste Mannschaft spielt in diesen Tagen vor 5000 Zuschauern in der Zweiten Liga gegen Wuppertal, Oldenburg oder Meppen, die Lizenz gibt’s vom Deutschen Fußball-Bund regelmäßig nur unter strengen Auflagen. Jochem Ziegert glaubt, „dass der Verein nur durch uns finanziell überlebt hat. Wir hatten ja in jedem Spiel einen neuen Trikotsponsor.“ Beim Halbfinale gegen den Chemnitzer FC singt Frank Zander zum ersten Mal überhaupt seine Stadion-Hymne „Nur nach Hause geh’n wir nicht“. Camillo gibt seinen Tipp diesmal per Fax ab: 2:1 für Hertha. Vor 56.000 Augenzeugen liefern die Bubis auch diese Auftragsarbeit ordnungsgemäß ab und feiern anschließend die ganze Nacht, mal abgesehen von den Zwillingen Oliver und Andreas Schmidt, die am nächsten Morgen eine Abiturklausur im Prüfungsfach Biologie schreiben. Und Jochem Ziegert bekommt seinen TR6 – versprochen ist versprochen.

Vors Rote Rathaus kommt - fast keiner

Das Pokalmärchen ist geschrieben, aber Märchen haben nicht immer ein schönes Ende. Das Präsidium knausert vor dem Finale bei den Prämien und gewährt gerade eine Freikarte pro Spieler, „aber die haben natürlich gewusst, wie viel die Herren in ihre eigene Tasche gesteckt haben“, sagt Jochem Ziegert. Camillo tippt auf einen Sieg gegen Bayer Leverkusen, mag sich aber nicht auf das Ergebnis festlegen, „1:0, oder 2:1“. Das eine stimmt so wenig wie das andere. Hertha hält bis eine Viertelstunde vor Schluss das 0:0. Dann kommt Nationalstürmer Ulf Kirsten und drückt den Ball zum Sieg ins Tor.

Das Märchen ist vorbei und Berlin schaltet ab. Beim Empfang am nächsten Vormittag verlieren sich gerade 200 Menschen vor dem Balkon am Roten Rathaus. Es sollte noch einen Autokorso geben, aber es sind keine Autos da. Was ist sonst geblieben? Wenig. Die Generation Bubi hat Hertha nicht nachhaltig geprägt. Die große Karriere haben nur der Torhüter Christian Fiedler und die Mittelfeldspieler Carsten Ramelow und Andreas Schmidt gemacht. Ramelow geht nach Leverkusen und schafft es als Nationalspieler bis ins Finale der Weltmeisterschaft 2002. Die beiden anderen steigen mit Hertha über die Bundesliga bis in die Champions League auf. Schmidt sitzt heute im Aufsichtsrat, hat aber mit dem täglichen Geschäft nichts mehr zu tun. Fiedler war bis vor drei Jahren Torwarttrainer, dann hat ihn die neue Klubführung in einem zweiminütigen Protokollakt die Freistellung übermittelt.

Jochem Ziegert fährt auch mit 61 jeden Tag nach dem Dienst am Fehrbelliner Platz zum Training. Den Triumph hütet er in der Garage, „bei schönem Wetter darf er wieder raus“. Das zehnte Final-Jubiläum haben die Bubis in Kyritz gefeiert, auf dem alten Dampfer, der mal Hertha hieß und dem Verein seinen Namen gab. Die Treffen werden seltener, das nächste ist für den 25. Jahrestag im Mai 2018 geplant. Sonst sehen sie sich nur noch bei Beerdigungen. Als Erster ist der Mannschaftsbetreuer gestorben, zuletzt der Stadionsprecher und zwischen beiden Camillo, der Prophet vom Wedding.

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