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Berlin: Das Zauberwort für Schulverweigerer heißt Zuwendung

Schüler, die anderswo keine Chance haben, werden in Hellersdorf besonders gefördert

Schulen machen sich fit für die Zukunft - und der Tagesspiegel ist dabei. Nach dem schlechten Abschneiden Berlins bei der Pisa-Studie besuchen wir Schulen, die Eigeninitiative groß schreiben und Probleme erfolgreich anpacken. In der 17. Folge unserer Serie stellen wir die Hellersdorfer Jean-Piaget-Hauptschule vor.

Die Schule. Hinter der Schule wartet der Stadtrand. Im nordöstlichen Hellersdorf residiert die Jean-Piaget-Schule. Sie besteht aus einem Ensemble vierstöckiger Plattenbauten, inmitten einer Landschaft aus noch viel höheren Plattenbauten. Das Äußere der Schule, das eher abschreckend wirkt, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass man an der Haupt- und Realschule schon seit Jahren den Beweis antritt, dass Schulreformen nicht nur etwas für Grundschulen und Gymnasien sind – sondern dass gerade die Hauptschule mit ihrer oft schwierigen Klientel auf sie geradezu angewiesen ist.

Unter dem Motto „Produktives Lernen“ kooperiert die Schule mit dem ortsansässigen Mittelstand. Zwei Tage in der Woche sind die Schüler an der Schule und drei in einem Betrieb beschäftigt. Außerdem werden hier auch Schüler aufgenommen, die an anderen Schulen nicht mitkommen. Das bekannteste Projekt der Jean-Piaget-Schule aber ist eine Koproduktion mit der Bürgerstiftung Berlin und seit diesem Schuljahr auch mit der Deutschen Bank: Eigene Klassen für so genannte Schulverweigerer. Vergleichbare Projekte gibt es in Charlottenburg, Neukölln, Wedding und Wilmersdorf.

Das Besondere. Christian ist 14 und war schon zweimal in der siebten Klasse. Schon im ersten Durchlauf hielt sich seine Motivation in engen Grenzen. Im zweiten war sie dann endgültig dahin. Als er dieses Jahr wieder nicht versetzt wurde, ging seine Mutter zum Jugendamt. Mit dem stand sie ohnehin in Kontakt, seit ihr Sohn zehn und zum ersten Mal straffällig geworden war. Man riet ihr, Christian in das „Schulverweigerer“-Projekt der Jean-Piaget-Schule zu schicken. Erst wollte Christian zwar partout auf seiner alten Schule bleiben. Am Ende wechselte er doch.

Nun sitzt er mit neun anderen 14- und 15-Jährigen, die eigentlich in die neunte Klasse gehören, aber zum Teil nie über die Grundschule hinaus gekommen sind, in einer Mini-Klasse. Von morgens bis nachmittags wird die Gruppe von einer Lehrerin und zwei Sozialpädagoginnen betreut. Statt mit Unterricht beginnt der Morgen mit einer „kommunikativen Runde“ in der der Tag besprochen und strukturiert wird – wichtig für Jugendliche, die lange nicht in der Schule waren, strukturiert. Anschließend frühstückt man gemeinsam. Erst danach beginnt der eigentliche Unterricht, der auch hier aus Mathe, Deutsch, Englisch und Arbeitslehre besteht. Nur dass hier die, die zuvor an herkömmlichen Schulen nicht zurechtkamen, in Zweier- oder Dreiergruppen betreut werden. Im Matheunterricht werden ihnen Aufgaben vorgelegt, die sie auch lösen können. Bei der Arbeitslehre schaut ihnen an der Nähmaschine eine Lehrerin lobend über die Schulter und erklärt auch gerne wieder und wieder, wie die Maschine funktioniert. Und wenn ein Schüler es im Klassenzimmer nicht mehr aushält, darf er kommentarlos ein paar Minuten rausgehen und sich abregen. Braucht er dabei Unterstützung, begleitet ihn eine Sozialarbeiterin.

Das Projekt an der nach einem Schweizer Psychologen benannten Hellersdorfer Schule will vor allem jene auffangen, die den Übergang von Grund- zu Oberschule nicht verkraften. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass verhaltensauffällige Kinder beim Eintritt in die Pubertät oft noch auffälliger werden. In die gleiche Zeit fällt der Schulwechsel, die Anonymität einer neuen Klasse, neue Bezugspersonen. Nach einem, spätestens nach zwei Jahren sollen die Schüler wieder in eine „normale“ Schule oder eine berufsvorbereitende Maßnahme integriert werden.

Die Schüler. Zumindest in einer Hinsicht ist der 14-jährige Christian eine Ausnahme: Er ist der einzige in der Klasse, der partout auf seiner alten Schule bleiben wollte. Alle anderen hatten schon eine halbe Ewigkeit keine Schule mehr von innen gesehen, als sie hierher kamen. Bianca, 15, war ein ganzes Jahr nicht in der Schule, Angelique noch länger. Sie sei von ihren Mitschülern gemobbt worden an ihrer alten Schule, sagt Bianca, und dass es „echt keine Chance gab, dass ich da noch mal hingehe“. Angelique erzählt, sie habe Probleme mit ihren Eltern gehabt. „Außerdem wollte ich immer das aufregende Leben haben und nicht wie alle anderen in der Schule rumhängen.“ Bis sie dann eines Tages feststellte, dass das Leben in Einkaufszentren, auf Partys und zu Hause vor dem Fernseher eben doch nicht so aufregend ist. „Ohne Abschluss hat man doch keine Chance“, sagt sie, „jetzt hoffe ich, dass ich soweit komme, dass ich irgendwann doch noch mal eine Ausbildung machen kann.“

Jeanette Goddar

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