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Berlin: DDR-Gründung: Wink-Elemente für die Proletarier

Die Flugblätter werden ihnen gewissermaßen aus den Händen gerissen. Weil sich die acht Genossen aber nicht gleich am Anfang alles nehmen lassen wollen, laufen sie ihren Papieren hinterher.

Die Flugblätter werden ihnen gewissermaßen aus den Händen gerissen. Weil sich die acht Genossen aber nicht gleich am Anfang alles nehmen lassen wollen, laufen sie ihren Papieren hinterher. Quer über den Alexanderplatz. Sie tragen sie zurück zum Stand, verteilen sie auf die einzelnen Stapel. Flaschen dienen als Flugblattbeschwerer. Die Naturgewalt, sagt die einzige Genossin am Stand, sei ein Problem. Dann lächelt sie: "Der Wind ist gegen uns."

Andere würde das Wissen, gegen eine Naturgewalt anzutreten, sicherlich einschüchtern. Doch die acht Genossen am Stand sind mächtige Gegner gewöhnt. "Zerschlagt das 4. Reich!", steht auf ihren Flugblättern. "BRD-Besatzer raus"!" Und: "Für eine unabhängige DDR"!" Jedes Jahr am 7. Oktober gehen sie auf die Straße, "zum Nationalfeiertag", dem Gründungstag der DDR. "Wir sind hier, um den DDR-Bürgern Selbstbewusstsein zu geben", sagt einer, dessen Name "nicht von Bedeutung" ist. Graue Haare, Brille, Wildlederjacke. "Und um ihnen klarzumachen, was sie verloren haben."

Doch das Volk auf dem Alex zeigt sich unbeeindruckt. Ignoriert die acht Genossen, ihren Stand mit der DDR-Fahne, den Bildern von Erich Honecker, dem scheppernden Kassettenrecorder. Dann bleibt doch mal einer stehen und lässt sich mehrere Flugblätter reichen. Als der Blick des Mannes auf ein Foto des ehemaligen Bürgermeisters Willy Brandt stößt, lacht er über die Bildunterzeile auf: "Frontstadtpöbelführer Weinbrand-Willy in Gangstermanier mit Sonnenbrille ...", steht da. Frohlockend zieht der Mann weiter. "Köstlich! Das sind noch Kämpfer!"

Sie nennen sich "Nationalkomitee Freie DDR", zu ihren Bürgern haben von den Genossen am Stand allerdings nur wenige gezählt. Die Frau beispielsweise sagt, dass sie als 17-Jährige "von ihren Eltern in die BRD gegangen" wurde. Schnell habe sie gemerkt, dass sie sich "in der Ellenbogengesellschaft" nicht wohl fühle. "Da wollte ich wieder zurück." Ist sie natürlich nicht. "Aber ich bin in die DKP eingetreten."

Oder Egon Schansker: Früher hat der Mann aus Moabit als Korrektor gearbeitet, jetzt ist er Rentner. Der ergraute Kämpfer sagt tatsächlich "Wink-Element", wenn er von Fähnchen spricht. Er beschimpft die FAZ als das "Zentralorgan der Bourgoisie". Und bezeichnet die Passanten am Stand als "DDR-Proletarier". Im vergangenen Jahr, erzählt Schansker, sei ihm hier vor dem Kaufhof einer komisch gekommen. Habe behauptet, dass Schansker und seine Genossen Schuld daran seien, dass er in der DDR nicht studieren durfte. Aber nicht mit Schansker. "Ich habe gesagt: Sie könnten auch Nazi sein!" Ja, im letzten Jahr war was los am Stand. Sogar die Polizei musste eingreifen. "Man müsste die Leute offensiver ansprechen", sagt die Genossin, zuckt dann aber mit den Schultern. Als jemand eine neue Kassette einlegt, lacht sie fröhlich auf. "Die Partei, die Partei, die hat immer Recht...", schallt jetzt über den Platz.

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