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Berlin: "Dein Vater ist tot": Die Erinnerung auf der Haut

"Dein Vater ist tot." Immer wieder hörte die junge Adama diesen Satz, wenn sie ihre Mutter nach ihrer Herkunft fragte.

"Dein Vater ist tot." Immer wieder hörte die junge Adama diesen Satz, wenn sie ihre Mutter nach ihrer Herkunft fragte. Eine Antwort, mit der die Tochter nicht leben wollte, nicht leben konnte. Denn die Erinnerung an den unbekannten Vater trug das Mädchen auf der Haut: Adama Ulrich wuchs als Tochter eines Schwarzafrikaners in der DDR auf.

Schon lange hatte die Journalistin Holde-Barbara Ulrich den Wunsch, einen Roman über ihre Tochter zu schreiben. Fast zehn Jahre hat es gedauert, ehe sie mit dem Schreiben begann. "Zuhause ist kein Ort" erschien jetzt im Ullstein-Verlag. Auf dem Titel des Buches ist die Tochter der Autorin zu sehen - jung, schön, selbstbewusst. Schließlich ist sie die authentische Hauptfigur; nur einiges an ihrer Geschichte ist frei erfunden. Die Handlung hat das Leben selbst geschrieben.

Sie beginnt 1962 in Ostberlin. Die Mauer steht gerade ein knappes Jahr. Holde-Barbara Ulrich ist 21 Jahre alt und hochschwanger. Der Vater ihres werdenden Kindes kommt aus Nigeria. Seit zwölf Jahren lebt er in der DDR, um Medizin zu studieren. Kurz vor der Geburt des Kindes ist er mit der Facharzt-Ausbildung fertig und will nach Afrika zurückkehren. Seine junge Freundin möchte er mitnehmen. "Er war meine große Liebe", erinnert sich die heute 59-Jährige. "Ich wäre ihm überall hin gefolgt. Aber ich habe marxistische Philosophie studiert, war in der SED, mein Vater war Schuldirektor. Ich bekam keine Ausreisegenehmigung."

Zwischen dem Liebespaar liegen von jetzt an Kontinente. Es gibt keine Aussicht mehr auf ein gemeinsames Leben. Der anfänglich intensive Briefkontakt lockert sich nach und nach bis er schließlich ganz aufhört. Als Holde-Barbara Ulrich erfährt, dass der Vater ihrer Tochter in Nigeria geheiratet hat, beschließt sie, mit diesem Teil ihres Lebens endgültig abzuschließen. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen.

Den Fragen ihrer Tochter, die bei den Großeltern in einer kleinen brandenburgischen Stadt aufwächst, weicht sie aus. Schließlich behauptet sie, Adamas Vater sei gestorben: "Ich wollte nicht, dass sie sich von ihrem Vater verlassen fühlt, dass sie anfängt, nach ihm zu suchen - zu einer Zeit, da es aus der DDR keinen Weg heraus gab." Und die Tochter fragt oft: Nach ihrem Vater, und warum sie anders aussieht als ihre Freunde. Ein Leben zwischen Extremen: einerseits bewundert, andererseits angestarrt. "Wo ist denn dein Vater?", wird Adama gefragt, und sie weiß keine Antwort. "Meine Lüge wurde immer größer, blähte sich auf, je älter und verständiger meine Tochter wurde. Eines Tages zerplatzte sie."

Als Teenager durchschaut Adama diese Lüge und lüftet in schmerzlichen, schonungslosen Gesprächen mit ihrer Mutter das Geheimnis um ihren Vater. Er ist nicht tot, sondern lebt - in Nigeria.

Reise ins Ungewisse

Kurz vor der Wende wird Adama in einer Straßenbahn von Skinheads angegriffen. Der Überfall bestärkt sie in ihrem Entschluss, nach Afrika zu reisen. Der Mauerfall vereinfacht ihren Plan. Gegen den Willen der Mutter verlässt sie ihr Land, ihre Freunde und ihren Liebsten. Adama macht sich auf den Weg ins Ungewisse. Denn sie weiß nicht viel mehr als den Namen und den Beruf ihres Vaters. Entgegen allen Erwartungen gelingt es ihr nach geheimnisvollen Begegnungen, einer schweren Krankheit, erpresserischen Liebesangeboten und wunderbaren Freundschaften ihren Vater zu finden. Ein todkranker Mann sitzt ihr schließlich gegenüber und gesteht seiner verlorenen Tochter: "Ich habe auf dich gewartet."

Als Adama, feierlich in den Kreis der väterlichen Familie aufgenommen, wieder nach Berlin zurückkehrt, erhält sie ein Telegramm mit der von Kindheit an vertrauten Nachricht: "Dein Vater ist tot."

Am Flughafen Schönefeld nahm Holde-Barbara Ulrich ihre Tochter wieder wohlbehalten in die Arme. Die Mutter spielt bereits mit dem Gedanken, diesen ungewöhnlichen Lebensstoff literarisch zu verarbeiten. Es wird die Geschichte Chiomas, der das Schicksal ihrer Tochter zugrunde liegt. Es geht ihr um mehr als um die Suche nach einem verschollenen Vater. Die Reise nach Afrika wird für Chioma zu einer Expedition der Selbstfindung - eingebettet in eine spannend geschriebene Reisegeschichte und unterbrochen durch Rückblenden auf Kindheit und Jugend in der DDR. "Ich wollte kein Porträt meiner Tochter schreiben", sagt Holde-Barbara Ulrich. "Es ging mir darum, innere Landschaften zu zeigen, statt das Bild des diskriminierten, dunkelfarbigen Kindes in einem weißen Land zu zeichnen. Ich wollte die Beweggründe einer schönen, mutigen, jungen Frau aufzeigen, die sich mit ihrer Liebe, ihren Schmerzen, ihren Sehnsüchten - ihrer ungeheuren Lust auf Leben auf die Suche macht nach sich selbst."

Den Spuren dieser Suche ist auch die Autorin inzwischen gefolgt. 1995 wagt sie an der Seite ihrer Tochter das erste Mal den Schritt in die Vergangenheit, die nie stattgefunden hat. In Afrika lernt sie die Familie ihrer Tochter, ihrer ersten Liebe kennen. Der Mann ist tot, als sie sein Land zum ersten Mal betritt. "Es ist eine wunderbare Fügung, dass mich meine Tochter dahin geführt hat, wohin ich nicht gehen konnte, als ich jung war. Es war eine Art Wiederauferstehung", schildert sie das Gefühl.

"Natürlich ist das Buch auch ein sehr intime Stellungnahme gegen die peinlich primitive Gesinnung von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus", so die Schriftstellerin. "Ich schäme mich für mein Land. Ein Land, in dem Menschen, nur weil sie anders aussehen, auf der Straße totgeschlagen werden."

Mit dem Buch "Zuhause ist kein Ort" hat sich Holde-Barbara Ulrich einen Traum erfüllt. Tochter Adama, Fernsehjournalistin und kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes, nimmt den Roman ihrer Mutter mit Anerkennung und ein wenig Distanz zur Kenntnis. "Ja, es ist meine Geschichte", sagt sie mit souveräner Gelassenheit. "Ich weiß, dass meine Mutter sie schreiben musste." Sie selbst, sagt Adama, hätte Chioma, die Hauptfigur, gern ein wenig leichter und fröhlicher gesehen. "Was mich angeht, ich lache so gern."

Katrin Meyer

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