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Ruhestätte einer Legende. Ernst Gennat liegt auf dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf begraben.

© Sebastian Gabsch

True-Crime-Hörspiele: So spannend sind Berlins Krimi-Geschichten der zwanziger Jahre

Die Hörspielreihe „Dark Berlin“ erzählt wahre Kriminalgeschichten aus Berlins zwanziger Jahren. Auch andere Audioformate greifen alte Fälle auf.

16. Februar 1919, Oberschöneweide, Kolonie Wilhelmstrand: Der Steinmetz Hermann Lietzkow, ein jähzorniger, gewalttätiger Mann, der seine Familie terrorisiert, stürzt von einer Leiter und schlägt mit dem Hinterkopf gegen eine Tischkante. Unfalltod nach Herzversagen, urteilt der Amtsarzt nach einem flüchtigen Blick auf die Leiche, die Schusswunde im Kopf fällt ihm nicht weiter auf. Auch die ermittelnden Polizisten schöpfen keinen Verdacht, nicht einmal, als die Witwe unverlangt die Pistole des Toten vorzeigt. Das habe mit dem Unfall nichts zu tun.

Erst zehn Jahre später beginnen erneut Ermittlungen, wird der vermeintliche Unfall als „Cold Case“ erkannt, dank eines Zufalls: Ein Paar ist in Streit geraten, man wirft sich Beleidigungen an den Kopf. Er sei ein Lump, ein Mörder, sie werde ihn anzeigen, tobt die Frau. So geschieht es – und die Gerechtigkeit nimmt ihren Lauf.

Ein wahrer Fall aus Berlins Kriminalgeschichte, die Ermittlungsakten lagern noch immer in der „Zentralkartei für Mordsachen und Lehrmittelsammlung“ des Landesarchivs Berlin am Eichborndamm in Borsigwalde, Aktenzeichen A Pr.Br.Rep. 030-03 Nr. 567, samt zweier Fotos des exhumierten Toten. Für Neugierige gäbe es Informationen zur Täterschaft bereits im Internet über das „Findbuch“ der Zentralkartei, aber das verdürbe die Spannung an dem Hörspiel „Der Fall Lietzkow“, der neuen Folge der im Dezember gestarteten, samt begleitendem Podcast in allen Online-Bookstores verfügbaren Reihe „Dark Berlin“.

Das Logo dieser im Charlottenburger Tonstudio Fritzton beheimateten „True Crime Hörspiel-Reihe aus dem Berlin der 1920er Jahre“ ziert vielversprechend ein stilisierter Totenkopf. „Dark Berlin“ klingt besser als „Düsteres Berlin“, spielt auf „Babylon Berlin“ an, und grenzt sich genauso davon ab, zumal die Macher Wert darauf legen, dass der Stadtname englisch, also „Böölin“ ausgesprochen wird.

Der Kriminalist und sein Kuchen

Die drei ersten und die fünf bereits avisierten, im 14-tägigen Turnus erscheinenden Folgen basieren auf rund ein Jahrhundert alten Polizeiakten aus dem Landesarchiv. An der Spitze der Ermittlungen stand stets der „Buddha von Berlin“, der legendäre Gründer und Leiter der „Zentralen Mordinspektion“, Ernst Gennat – ein voluminöser, seiner Kuchenleidenschaft frönender Kriminalist, von Detlef Bierstedt überzeugend dargestellt, ebenso gemütlich wie beharrlich im Wesen, mit hervorragendem Riecher für Verdächtiges. Jedes in „Dark Berlin" geschilderte Verbrechen sei „auch so begangen“ worden, heißt es stets in der Einleitung zu den bislang acht Folgen. Nur Namen beteiligter Personen, teilweise auch Ortsnamen habe man verändert und historische Figuren wie Gennat „in einem fiktiven Personenumfeld platziert“.

Buddha von Berlin. Der Kriminalist Ernst Gennat (1880 - 1939) ging mit seinem guten Riecher in die Geschichte ein.
Buddha von Berlin. Der Kriminalist Ernst Gennat (1880 - 1939) ging mit seinem guten Riecher in die Geschichte ein.

© ullstein bild via Getty Images

Auch im Podcast zum „Fall Lietzkow“ versichern die drei befragten Macher, Johanna Magdalena Schmidt (Story), Peter Minges (Produktion) und Sabine Hinrichs (Regie), dass nichts hinzugefügt oder weggenommen worden sei. Man habe die Geschichte nur ein bisschen konzentriert, wegen der fast zehnjährigen Unterbrechung der Ermittlungen, ein Zeitsprung, der sich im Film leichter überbrücken lasse als im Hörspiel. Jahre schrumpften so zu Monaten, und aus Hermann Lietzkow wurde ein Bruno, der nicht im Februar 1919, sondern im Frühjahr 1920 zu Tode kommt.

Durch das Archivmaterial als Grundlage könne sie in die unterschiedlichsten Welten und Personen eintauchen, „ein Geschenk“, wie die Johanna Magdalena Schmidt sagt: „Da findet das echte Leben statt.“ Sein oberstes Ziel beschreibt das Team als eine „Zeitreise“, auf die es die Zuhörer mitnehmen wolle, um ihnen, so weit das mit diesem Medium geht, den „Geschmack für die Zeit“ zu vermitteln. Unterstützt wurden die Macher von dem Historiker Henning Fülle, gemeinsam hat man versucht, die Kriminalfälle in ihren gesellschaftlichen Kontext einzubetten, sie als Teil einer Sozialgeschichte zu erzählen, die gerade in den Zwanzigerjahren hochdramatisch war.

Das erste Hörsüpiel sendete 1924 die BBC

Das Genre des Hörspiels wie der Hörfunk selbst wurden damals erst erfunden, es ist also ziemlich genau so alt wie die Fälle, die in „Dark Berlin“ geschildert werden. Als erstes Hörspiel der Rundfunkgeschichte gilt „Danger“ von Richard Hughes, am 15. Januar 1924 von der britischen BBC ausgestrahlt. Schon da ging es ziemlich „dark“ zu: Ein junges Ehepaar und ihr Führer werden bei einer Bergwerksbesichtigung durch einen Wassereinbruch eingeschlossen.

Als erstes deutsches Hörspiel nennen Rundfunkhistoriker Hans Fleschs „Zauberei auf dem Sender“, im selben Jahr vom Südwestdeutschen Rundfunkdienst in Frankfurt am Main gesendet. Seither haben sich Technik und Dramaturgie des Genres grundlegend erweitert, eine Vielfalt spielerischer Möglichkeiten ist dazugekommen, die von den „Dark Berlin“-Machern aber kaum ausgeschöpft wird.

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Nicht, dass sie sich dazu keine Gedanken gemacht hätten: Bewusst habe man „nur das Nötigste an Geräuschen“ eingesetzt, erläutern sie im Podcast zu „Der Fall Lietzkow“. Was vor allem stimmen müsse: „die Akustik des Raums“. Doch über weite Passagen übernimmt nur ein Erzähler die Geschichte, wird das Hörspiel zum Hörbuch mit hier und da eingespielten, durchaus spannenden, aber zu seltenen Dialogszenen. In „Der Fall Lietzkow“, exakt 36 Minuten und 40 Sekunden lang, ist das Verhältnis etwa fifty-fifty.

Der Anschlag auf die Diskothek "La Belle" vom 5. April 1986 wurde jetzt zum Stoff für ein "True Crime"-Hörspiel.
Der Anschlag auf die Diskothek "La Belle" vom 5. April 1986 wurde jetzt zum Stoff für ein "True Crime"-Hörspiel.

© picture alliance / dpa

Ein Hörspiel wie „La Belle – Terror auf der Tanzfläche“ von Viviane Koppelmann, im Dezember im Deutschlandradio ausgestrahlt und in dessen Mediathek noch immer verfügbar, geht da schon in den ersten Sekunden viel mutiger, mediengerechter vor: eine Folge von sich überlagernden, ineinander geblendeten Schlagzeilen nach dem Anschlag vom 5. April 1986 auf die besonders von US-Soldaten genutzte Diskothek „La Belle“ in der Friedenauer Hauptstraße 78.

Auch dieses Hörspiel setzt auf die Faszination des „true Crime“, des wahren Verbrechens, das man mit wohligem Gruseln, doch im sicheren Heim nacherleben kann – ein Vergnügen, auf das ein mit der Historie, hier dem Sexskandal von 1891 im Jagdschloss Grunewald, eher locker umgehendes Hörspiel wie „Die juten Sitten – Kaiserwetter in der Gosse“ von Anna Basener (Audible) ebenso setzt wie die dokumentarische Podcast-Serie „Im Visier – Verbrecherjagd in Berlin und Brandenburg“ (rbb24, ARD-Audiothek).

Auch Buchautoren folgen dem Trend zu "True Crime"

Auch Buchautoren folgen diesem Erfolgsrezept, etwa Regina Stürikow mit Sachbüchern wie „Verbrechen in Berlin“ und „Kommissar Gennat ermittelt“ oder Romanen wie „Kommissar Gennat und der BVG-Lohnraub“ (alle Elsengold-Verlag), ebenso Lutz Göllner mit seiner ebenfalls der Realität verpflichteten Fallsammlung namens „Ganoven, Mörder, Panzerknacker – Wahre Verbrechen aus der Berliner Unterwelt“ (Tagesspiegel-Verlag).

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Viviane Koppelmann dagegen hat ihre „La Belle“-Geschichte „frei nach wahren Begebenheiten“ entwickelt, wie es gleich zu Beginn der ersten der beiden Folgen heißt. Erfunden ist bereits Hauptfigur und Erzähler Wolfgang „Wolle“ Sobotka, ein mit den Staatsorganen immer wieder in Konflikt geratender DDR-Punk, der schließlich in den Westen freigekauft wird, sich der Stasi wie der CIA – halb zogen sie ihn, halb sank er hin – als Doppelagent verpflichtet und bei einem zwielichtigen West-Berliner Bauunternehmer mit libyschen Kontakten eingeschleust wird. An dessen Seite avanciert er bald zum Helfershelfer terroristischer Aktivitäten des libyschen Geheimdienstes, die schließlich in den Bombenanschlag auf die Diskothek „La Belle“ münden.

Eine spannende, sehr hörspielgerecht aufbereitete, mitunter etwas konstruiert wirkende Story, die mehr auf die Möglichkeit als die Wahrheit setzt, sich mit ihr, der Inspirationsquelle, aber immer wieder berührt. Ein Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi im Umfeld der libyschen Botschaft in Ost-Berlin, der seinen Führungsoffizier wenige Stunden vor dem Anschlag darüber telefonisch informieren wollte, dass es in Kürze knallen werde? Er hieß nicht Wolfgang „Wolle“ Sobotka, aber es hat ihn gegeben.

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