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Wir sind das Volk. Schon im Jahr 2030 wird mehr als jeder fünfte Berliner im Rentenalter sein. Bloß herumsitzen werden viele der Älteren trotzdem nicht.

© IMAGO

Demografischer Wandel: Dem hippen Berlin wachsen graue Haare

Berlin wirkt jung und frisch, doch schon bald wird die Stadt mit dem Gehstock regiert. Ab 2030 prägen einsame Greise das Stadtbild. Die Landesregierung hat das Problem erkannt, doch ist ihr Demografiekonzept tauglich?

In der Wahrnehmung ist die Illusion stärker als die Realität: Berlin wirkt so jung. In Prenzlauer Berg werden weiter Kinderwagen geschoben, Kitaplätze gesucht und Privatschulen gegründet. Tausende Studenten ziehen jedes Semester in die Stadt, Berufseinsteiger und junge Kreative aus aller Welt kommen, um ihr Glück zu suchen. An jedem Wochenende sind die Clubs voll. Gefühlt liegt das ganze Leben vor uns.

Aber in Wirklichkeit bleibt dem Durchschnittsberliner mit 42,7 Jahren bestenfalls noch die zweite Hälfte des Lebens.

Und während sich die jüngeren, gut ausgebildeten Bewohner der Stadt fragen, ob sie hier eine langfristige Perspektive haben, mit der Aussicht beruflich aufzusteigen und vielleicht eine Familie zu gründen, fragen wir Älteren uns, wie es in der Stadt aussehen wird, wenn wir, die Alten, die große Mehrheit bilden werden. Es wird gar nicht mehr so lange dauern.

Ich bin Teil des Problems, zumindest dem Alter nach. Als Jahrgang 1966 gehöre ich zu den geburtenstärksten Jahrgängen der alten Bundesrepublik. Wir haben die höchste statistische Lebenserwartung in der Geschichte. Und ich glaube, ich kann für alle Angehörigen der Babyboomergeneration sprechen, wenn ich sage: Wir haben nicht vor, aus Rücksicht auf den sozialen Frieden früher abzutreten. Im Gegenteil. Wir werden für unsere Rechte eintreten. Wir, die Mehrheit, werden bestimmen, wo es langgeht. In nicht mehr ferner Zukunft wird Berlin mit dem Gehstock regiert.

Das Schicksal der alternden Stadt scheint unausweichlich. Weder die leicht gestiegenen Geburtenraten der vergangenen Jahre noch der gegenwärtige Trend des Bevölkerungswachstums durch Zuwanderung werden daran wohl langfristig etwas ändern. Zwar erwarten die Demografen für Berlin bis 2030 ein Bevölkerungswachstum. In der mittleren, also der realistischsten Variante ihrer Schätzung gehen die Forscher davon aus, dass jährlich etwa 6000 bis 39 000 Personen (durchschnittlich 14 500) mehr in die Stadt kommen, als sie verlassen werden. Doch zugleich wird das steigende Durchschnittsalter der Bevölkerung (auf 45,3 Jahre im Jahr 2030) dazu führen, dass mehr Einwohner sterben als geboren werden – weil auch der Anteil der Frauen im gebärfähigen Alter kontinuierlich zurückgeht. Der Wanderungsgewinn von insgesamt 275 000 Menschen wird durch den natürlichen Bevölkerungsrückgang aufgewogen, sodass die Stadt im Jahr 2030 nur 254 000 Einwohner mehr zählen wird als jetzt, nämlich 3,756 Millionen.

Die wichtige Gruppe der „jungen Erwachsenen“ schrumpft

Berlin wächst, das hört man oft und gerne. Dass Berlin darüber graue Haare wachsen dagegen weniger. Dabei wird sich die Altersstruktur dramatisch verändern. Der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung wird bis 2030 sinken. Besonders stark – um sechs Prozent im Vergleich zu heute – schrumpft die wichtige Gruppe der „jungen Erwachsenen“ zwischen 18 und 25 Jahren. Berlins Zukunft gehört den Greisen und den Methusalems. Der Anteil der über 65-Jährigen wird um knapp ein Drittel auf insgesamt 858 000 Menschen steigen, das sind 22,8 Prozent der Gesamtbevölkerung. Und die Zahl der über 80-Jährigen wird sich von 148 000 auf 267 000 erhöhen – eine Steigerung von 80,7 Prozent.

Stephan Wiehler ist verantwortlicher Redakteur für Projekte und Entwicklung beim Tagesspiegel.
Stephan Wiehler ist verantwortlicher Redakteur für Projekte und Entwicklung beim Tagesspiegel.

© Tsp

Die Landesregierung hat erkannt, dass sie die Entwicklung nicht aufhalten kann. Aber die Politik will den demografischen Wandel zumindest „gestalten“, dem Unvermeidbaren einen „strategischen Rahmen“ für den „politisch-planerischen Umgang“ geben – und hat dafür ein Demografiekonzept entwickelt. Auf der Agenda stehen vier „Handlungsfelder“:

1.) Die „kreative und wirtschaftlich erfolgreiche Stadt“ soll gestärkt, die Wissenschaft, die Kreativwirtschaft, der Gesundheitsstandort und der Tourismus sollen gefördert werden. „Fachkräftemangel vorbeugen, Erwerbspersonenpotenzial ausschöpfen und Unternehmertum stärken“, lauten die Handlungsanweisungen.

2.) Im Bereich „Kinder, Jugendliche und Familien“ sollen „attraktive Bildungslandschaften“ entstehen; man will Familien unterstützen, „Jugendliche beteiligen, aktivieren und fördern“, die „Attraktivität der Innenstadt steigern und als Wohnstandort für Familien und Kinder verbessern.“

3.) Eine „weltoffene und soziale Stadt“ soll entstehen. Dafür will der Senat die „gesamtstädtische Willkommenskultur entwickeln“, um beruflich qualifizierte Einwanderer anzuwerben, die Integration und den „sozialen Zusammenhalt stärken“ und die Stadt behinderten- und altengerecht umbauen.

4.) Schließlich wünscht der Senat den Bürgern ein „langes Leben in der Stadt“. Dazu sollen „Kompetenzen und Teilhabe“ der „aktiv Alternden“ gefördert werden. Dezentrale Versorgung und Pflege sollen dazu beitragen, dass Menschen möglichst lange „selbstbestimmt wohnen und leben“ können.

Morgen wird Berlin zur Heimstätte für die einsamen Greise

Wer die Berliner Gegenwart mit ihren Abgründen zwischen Wunschdenken und Wirklichkeit kennt, weiß diese Liste mit der gebotenen Distanz zu lesen. Niemand kann heute sagen, in welchem Verhältnis im Jahr 2030 der Anteil derer, die von außereuropäischen Pflegekräften in Heimen versorgt werden, zu dem jener stehen wird, die in Mehrgenerationenhäusern oder Wohngemeinschaften ein selbstbestimmtes Leben führen können. Aber sicher ist, dass für die Alten von morgen ein hohes Risiko besteht, in Einsamkeit zu leben. Viele werden auf die Hilfe des Staates und sozialer Dienste angewiesen sein, weil ihnen die Familie fehlt, die sie betreuen, pflegen, die ihnen Gesellschaft leisten wird.

Heute ist Berlin die Hauptstadt der Singles, der prekär Beschäftigten, die sich Kinder gar nicht leisten können, der Alleinerziehenden, die mit dem Armutsrisiko Kind ins soziale Abseits geraten, und allmählich – dank der wirtschaftlichen Dynamik – wird Berlin die Stadt der kinderlosen Dinks (dual income, no kids) – also der doppelverdienenden, karriereorientierten Paare, die lieber das Leben genießen, als Familienpläne zu schmieden. Die Folge ist: Morgen wird Berlin zur Heimstätte für die einsamen Greise.

Berlin profitiert von der sogenannten Ruhestandswanderung

Die Senioren von heute schreckt diese Aussicht nicht. Seit 1999 verlegen mehr Menschen im Rentenalter ihren Lebensmittelpunkt nach Berlin, als von hier fortziehen. Auch der Zustrom älterer Erwerbstätiger, also der Rentner von morgen, nimmt zu. Kultur, Shopping, Mobilität, medizinische Versorgung, die Nähe von Urbanität und Natur – das alles wissen Lebenserfahrene zu schätzen. Berlin profitiert von der sogenannten Ruhestandswanderung. Weil es mit den Alten zur Abwechslung mal eher die Wohlhabenden in die Stadt zieht und nicht die Armen.

Die kommenden Generationen der Seniorenboomer bergen großes wirtschaftliches Potenzial. Mit dem euphemistischen Begriff der Gesundheitsstadt hat Berlin bereits das passende Cluster für diese Klientel entwickelt: Neben Kliniken, Rehabilitationsstätten, Seniorenresidenzen, Alten- und Pflegeheimen und sozialen Diensten tut sich ein weiter Horizont für unternehmerische Ideen und Initiativen auf, die altersgerechte Produkte und Serviceleistungen bieten.

Die große Frage: Wie kann Berlin seine jugendliche Frische erhalten?

Die Alten könnten zu einem Jobmotor für Berlin werden. Aber sie können die Stadt auch schnell alt aussehen lassen. Heute lebt Berlin zu einem Großteil von seinem Image als junger Kreativmetropole, als die Stadt der großen Freiheit, in der die Ideen für die Welt von morgen entstehen. Mit dem demografischen Wandel wird sich das ändern. Wie sich Berlin trotz des fortschreitenden Durchschnittsalters seiner Bevölkerung die jugendliche Frische erhalten kann, dazu steht nichts im Demografiekonzept des Senats.

Aber ich habe schon einen Plan: Wenn ich Rentner bin, arbeite ich als ehrenamtlicher Helfer im Coffeeshop des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg an der Cannabiswaage. Man muss sich schließlich einsetzen für die jungen Leute. Auf keinen Fall werde ich rumsitzen und Bingo spielen.

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