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Berlin: Demonstranten haben den Hut auf

Es war das Wochenende der Wutbürger: Tausende zogen für eine neue Agrarpolitik und gegen Fluglärm durch den Schneeregen.

An der Friedrichstraße legen Berliner und Touristen den Kopf in den Nacken. Es wird doch jetzt nicht etwa über Mitte ein Flugzeug in den Landanflug gehen? Doch die Turbinengeräusche dröhnen aus den Boxen der Lautsprecherwagen, mit denen Tausende, die gegen Flugrouten über Berlins Außenbezirken und ein neues Hauptstadtdrehkreuz sind, am Sonnabend zum Gendarmenmarkt ziehen. Wenige Kilometer Luftlinie entfernt schallen Protestgesänge und Trommelklänge zwischen Bundeskanzleramt und Paul-Löbe-Haus hin und her. „Hopp, hopp, hopp, Agrarverbrecher – stopp!“ rufen tausende Demonstranten im anderen Protestzug. Der steht anlässlich der weltgrößten Agrar- und Ernährungsmesse Grüne Woche unter dem Motto „Wir haben es satt! Bauernhöfe statt Agrarindustrie“.

An diesem Großdemo-Sonnabend des neuen Jahres zogen weit mehr als Zehntausend politisch und gesellschaftlich engagierte Bürger durch den Schneeregen. Reisebusinsassen wie Autofahrer im Stau sahen die Massen mit Regenschirmen und Plakaten vorbeiziehen.

Erst vorletztes Wochenende hatten ganz bürgerliche Berliner ihre Regenschirme vorm Schloss Bellevue in die Höhe gehalten, um Bundespräsident Christian Wulff die aufgespießten Schuhe zu zeigen – nach arabischer Tradition ein Zeichen der Missbilligung. Die gebührte am Sonnabend nun den Vertretern der Lebensmittelkonzerne, den EU-Agrarpolitikern, aber auch dem unbedachten Verhalten vieler Verbraucher. Sie würden durch ihre Kaufentscheidung auch Politik machen können, appellierten die Vertreter der mehr als 90 Umwelt- und Tierschutzverbände, von Entwicklungshilfeorganisationen und Landwirtevereinigungen. Um ihre Appelle zu hören, musste man sich erst einen Weg durch die eng stehenden knapp Zehntausend bahnen, vorbei an Traktoren mit Nummernschildern aus ganz Deutschland.

Auf Englisch schallte der Protest von der Bühne nahe dem Bundeskanzleramt, sind auf der Grünen Woche doch rund 1600 internationale Aussteller vertreten; gut 400 000 Besucher werden noch bis 29. Januar erwartet. Denn was beim Einzelnen an Essen auf den Tisch kommt, habe immer globale Folgen, warnte die Nigerianerin Mariann Bassey der Initiative „Friends of the Earth“: Ob afrikanische Bauern ihre Felder mit Soja-Futtermais-Monokulturen für internationale Abnehmer bepflanzten oder europäische Länder mit ihren Billigexporten von Babymilchpulver oder Konserven die lokale Wirtschaft in den Exportländern ruinierten. Mit Lebensmitteln dürfe auch nicht spekuliert werden. Derweil buchstabierten die Demonstranten das kleine Einmaleins der Lebensmittelskandale: Da gab es die Rinderkrankheit BSE, die Schweinegrippe H1N1, die per Sprossen auf den Menschen übertragene Darmkrankheit Ehec mit der gefährlichen Hus-Variante, und gerade beunruhigen die im Übermaß zugefütterten Antibiotika in Mastgeflügel. Anlässlich der Demo forderte auch Starköchin Sarah Wiener ein Umdenken.

„Deswegen sind wir gegen Massentierhaltung, Überproduktion, Lebensmittelvernichtung und Gentechnik – aber für nachhaltige Nutztierhaltung“, sagt Niko Hübner. Der 19-Jährige aus Prenzlauer Berg von der BUND-Jugend steckt in einem pinkfarbenen flauschigen Schweinekostüm und wärmt sich mit Kartoffelsuppe aus Öko-Anbau. „Die Leute sollten weniger Fleisch essen und dafür lieber etwas mehr Geld für Produkte aus biologischer Landwirtschaft ausgeben“, sagt Imker-Ehefrau Beate Wolf aus Magdeburg. Am Stand der Tierversuchsgegner kommt Brigitte Jenner kaum mit dem Einsammeln von Unterschriftenlisten hinterher. 383 527 Versuchstiere gebe es in Berlin, Nagetiere, Hunde, Katzen, Affen – viele Versuche für Cremes könne man längst mit Alternativmethoden vornehmen.

Derweil baumeln bei der Großveranstaltung der Flughafengegner auf der Leipziger Straße Windelhosen im ungemütlichen Wind. Die sind unter Poster der sozialdemokratischen Landesfürsten, Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit und Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck geklebt. „Lügen haben kurze Beine“, steht drunter. Ein Kunsthändler aus Wannsee fotografiert die Szenerie gleich mal mit dem Handy. „Ich kam 2004 aus der Schweiz nach Berlin“, sagt der Mann, der mit seiner Frau in einem Einfamilienhaus wohnt. Nun wollen beide noch Einfluss nehmen vor der endgültigen Festlegung der Flugrouten, „auch wenn ich berufsbedingt schon viel fliege“.

Ein anderer sagt im Motorengedröhn, sein Haus in Teltow sei jetzt „unverkäuflich“, das habe ihm ein Immobilienmakler gesagt. „Alles furchtbar“, steht auf einem Plakat. Eine Sprecherin der Veranstalter sagt, die Bürger seien enttäuscht von den Behörden, die Gutachten verheimlichen wollten. Im übrigen habe bis zur Eröffnung des neuen Flughafens am 3. Juni nur ein kleiner Teil der betroffenen Haushalte lärmmindernde Fenster erhalten. Schönefeld brauche ein Nachtflugverbot , BER solle nur Regionalflughafen sein. Hält sie das für realistisch? „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt die Frau.

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